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Soziale Dienstleistung – ein systemrelevanter Bereich in der Abseitsfalle? Ein Appell an uns alle und an die PolitikInklusion zu Zeiten der Pandemie: Wie belastbar ist unsere Gesellschaft?

VOGELSBERG (ol). Inklusion zu Zeiten der Pandemie: Wie belastbar ist eigentlich unsere Gesellschaft? Genau das fragen sich derzeit die Schottener Sozialen Dienste unter Geschäftsführer Christof Schaefers und Antje Zeiger von der Stabsstelle Inklusion. Aus diesen Fragen haben sie einen Appell an die Gesellschaft und an die Politik verfasst, der im Folgenden im Wortlaut gezeigt wird.

„Das Corona-Virus hat unsere freiheitsliebende Gesellschaft fest im Griff. Eine scheinbar hoch modern denkende Gesellschaft, einer hohen wirtschaftlichen Obhut, der es zu verdanken ist, dass wir die Krise finanziell abgesichert durchleben können, kommt unter Stress. Wie es in vielen Fernsehsendungen heißt: Gesellschaft im Stresstest. Die soziale Zielsetzung unserer Gesellschaft Inklusion – alle Menschen unserer Gesellschaft können zu jeder Zeit an jedem Ort selbstbestimmt teilhaben – muss grade in der heutigen Zeit mit Ausrufezeichen versehen werden. Die Beobachtung der letzten Tage und Wochen und das, was in den nächsten Tagen und Wochen zu erwarten ist, lässt Fragen auftauchen, die diese Werte Inklusion ebenfalls einem Stresstest unterziehen werden.

Zusammenhalt und Fürsorge lauten die Kernaussagen in Zeiten der Pandemie – doch gilt das tatsächlich für alle?

Kontaktminimierung statt Ausgangssperre ist die aktuelle Maßnahme, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Wir alle sind dankbar, dass wir uns noch ohne zeitliche Einschränkung allein oder zu zweit im Freien bewegen dürfen. Einkaufen, arbeiten, Spazieren gehen, Sport treiben. Doch die Angst vor dem Virus lässt in allen Bereichen unserer sozialen Sicherheitssysteme erschreckenswerte Dinge beobachten: Bewegen sich Menschen mit Behinderungen in unseren Dörfern und Städten, so werden sie als Virenträger angesehen, die zuhause bleiben sollen.

Soziale Dienstleister der Eingliederungshilfe – u.a.zuständig für die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen in allen Arten von Wohnformen und tagesstrukturierenden Maßnahmen sowie für die Teilhabe am Arbeitsleben – werden teilweise mit  Anzeigen bedroht, wenn  Menschen mit Behinderungen ihrer Tätigkeit nachgehen. Gelten in Krisenzeiten die Menschen- und Grundrechte doch nicht mehr für alle?

Kontaktminimierung und ihre psychischen Folgen – soziale Dienstleister in besonderem Maß gefordert

Die Grundrechte von Selbstbestimmung und Freiheit sind für uns alle ein hohes Gut und die Einschränkung hinterlässt psychische Spuren. Wenn dies selbst Menschen wie Johannes B. Kerner betrifft, die auch in der Quarantäne noch Kontakte zu ihrer Familie haben, zu einem großen sozialen Netz an Freunden und vielfältige Möglichkeiten von Freizeitaktivitäten, was denken Sie, wie sehr dies Menschen betrifft, die all dies nicht oder nur in eingeschränkter Form haben? Menschen, die in sämtlichen Lebensbereichen auf Unterstützung durch sozialer Dienstleister angewiesen sind? Kinder und Jugendliche, die in Wohnheimen leben. Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung, die in besonderen Wohnformen leben und nun – durch das Betretungsverbot von Werkstätten für Menschen mit Behinderung – nur noch im Notfall arbeiten dürfen?

Die Aktivitäten auf den engsten Raum in besonderen Wohnformen beschränkt – Zusammenleben in Gruppen, ohne die eigene Familie. Psychiatrien, die Patienten in diese Wohnformen entlassen, da die Kapazitäten für die Bewältigung der Pandemie benötigt werden. Wie wir alle, so sehen auch diese Menschen sich mit zunehmenden Ängsten konfrontiert, allerdings auf der Basis psychischer Erkrankungen unter völlig anderen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen.

Soziale Dienstleister der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe stehen vor extremen Aufgaben und Herausforderungen. Besondere Maßnahmen zur Zeitgestaltung und Krisenbewältigung werden ad hoc vorgehalten. Inobhutnahmeplätze der Kinder- und Jugendhilfe werden bereitgestellt, da soziale Dienstleister und Jugendämter davon ausgehen, dass häusliche Gewalt im Rahmen der Kontaktverbote deutlich zunehmen werden.  Frauenhäuser rechnen mit einem signifikanten Anstieg der Nachfrage aufgrund zunehmender häuslicher Gewalt.

Soziale Dienstleister sind vom Pandemieplan der zu versorgenden Bereiche mit Schutzkleidung, Hygienemittel und Testungen nicht erfasst – was passiert, wenn das System kollabiert? – Aufforderung an die Politik!

Obwohl soziale Dienstleister ebenso wie die Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen einen systemrelevanten Beitrag für die Gesellschaft leisten, sind sie vom System der zu versorgenden Bereiche mit Schutzkleidung, Hygienemittel und Testungen nicht erfasst. Die Folge sind schon jetzt Personalengpässe durch nicht vorgenommene Testungen bei Verdachtsfällen und massive Ängste bei den Mitarbeitern aufgrund nicht vorhandener Schutzkleidung und nicht ausreichender Hygienemittel.

Im Falle von eintretenden Quarantänefällen sind die Folgen kaum auszudenken. Soziale Dienstleister benötigen dringend die Aufnahme in den Pandemieplan, um die Unterstützung für Kinder und Jugendliche sowie für Menschen mit Behinderung weiter gewährleisten zu können. Sie benötigen im Verdachtsfall direkte Testungen und Schutzkleidung sowie Hygienemittel um die Ihren Dienst an den Menschen aufrecht erhalten zu können, die in besonderem Maß auf Unterstützung angewiesen sind!

Soziale Dienstleister der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe sind systemrelevant – werden jedoch selten genannt

Ebenso wie die Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen leisten die Mitarbeiter des Sozialwesens tagtäglich unermüdlich und hoch professionell Ihren Einsatz. Etliche verlagern übergangsweise ihren Arbeitsplatz, statt bspw. in einer Werkstatt tätig, unterstützen sie nun die besonderen Wohnformen. Neue Konzepte der Beschäftigungsmöglichkeiten ad hoc entwickelt. Menschen und Gebäude auf Quarantänemaßnahmen vorbereitet, Ängste bewältigt.

Es wäre fatal, wenn die weltweite Krise durch das Corona-Virus uns diese Errungenschaft, nämlich die Teilnahme Aller am gesellschaftlichen Leben vergessen wird und ‚hinten runter‘ fällt. Wir alle haben jahrzehntelang dafür gekämpft, dass genau dieser hohe gesellschaftliche Standard in allen Teilen der Gesellschaft weiterhin zum Ziel von uns allen im Auge bleibt. Die Gedanken der Inklusion unterliegen somit selbst einem Stresstest. Die Mitarbeiter aller Angebote sozialer Dienstleistungen leisten in diesen Tagen in allen Altersgruppen, ob Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und alte Menschen Übermenschliches. Das darf in der größten Krise auch nicht übersehen werden, auch sie haben unser aller Applaus und Unterstützung verdient!

Wir alle leisten unseren Beitrag, dabei kommt es auf jeden Einzelnen an – auch auf Menschen mit Behinderung?

Jeder Mensch in unserer Gesellschaft übernimmt einen Part, einen Teil von Verantwortung. Wir alle sind aufgerufen, Inklusion als wesentlichen Grundbaustein unserer Gesellschaft gerade in diesen Tagen zu untermauern und als gemeinschaftlichen Wert zu etablieren. Die Solidariät Aller und das Denken an die Teilhabe Aller ist dabei wesentlich.

Menschen mit Behinderung arbeiten auch in Krisenzeiten an unterschiedlichen Orten unserer Gesellschaft. Die Werkstatt für behinderte Menschen als ein Ort der Teilhabe am Arbeitsleben versorgt in seinen vielfältigen Strukturen Tiere, unterstützt die landwirtschaftliche Produktionskette, ist an vielen Bestandteilen von Reinigung und Desinfektion in Form von Wäscheversorgung unmittelbar systemrelevant eingebunden. Inklusionsfirmen, betriebliche Beschäftigung finden durch  Unterstützung der Reinigungskräfte in Krankenhäusern und Pflegeheimen systemrelevant statt. Dies alles geschieht und unter den Prämissen der Teilhabe und der professionellen Arbeit der Mitarbeiter in allen Facetten der sozialen Arbeit.“

Antje Zeiger, Stabsstelle Inklusion
Christof Schaefers, Geschäftsführer

5 Gedanken zu “Inklusion zu Zeiten der Pandemie: Wie belastbar ist unsere Gesellschaft?

  1. Aber was glauben Sie, warum Ihre Argumente dann letztlich doch nicht zu den gebotenen Veränderungen führen? Der „Klassenfeind“ ist ja nicht blöde! Er produziert immer neue Widersprüche des Systems und Untergruppen, die noch viel ungerechter behandelt werden und für die vor allen anderen gesorgt werden müsste, bevor die anderen dran kommen, denen es wenigsten so la la geht. Und jammern die unterbezahlten Pflegeberufe, dann reibt man ihnen die pflegenden Angehörigen unter die Nase, die zwar zwei Drittel der häuslichen Pflege stemmen, aber für ihre Arbeit noch weniger kriegen und noch größere Opfer bringen.
    Und wer soll denn bestimmen, welche Vergütung angemessen ist? Letztlich können Sie ihren angemessenen Anteil nur gesellschaftlich aushandeln (Tarifverhandlungen!). Und dann fragen Sie mal, wer von denen, die sich gern (und natürlich zu Recht!) darüber beklagen, dass nach dem schulterklopfenden Applaus bestenfalls noch ne kostenlose Dankeschön-Pizza, aber kein angemesseneres Gehalt folgt, denn gewerkschaftlich organisiert ist? Die Ärzte haben ihre mächtigen Verbände und denken bei der Wahrnehmung eigener Interessen auch nicht an Nachtschwester Ingetraut aus dem Schicksalsroman. Und was heißt es schon, dass zwecks Schaffung besserer Grundlagen für die Pflege der Schwerpunkt auf die Schaffung gesellschaftlichen Nutzens gelegt werden müsse? In einer pluralistischen Gesellschaft hat jede Interessengruppe ihre eigenen Vorstellungen von gesellschaftlichem Nutzen. Wer niedrige Steuern zahlen will (die ja dann am Ende gar nicht niedrig, sondern nur nicht so hoch wie befürchtet sind), findet es doch gesellschaftlich höchst nützlich, wenn pflegende Angehörige sich um die eigenen dementen Großeltern kümmern. Wieder ein paar Hunderttausend Euro gespart. Waren ja schließlich auch die Großeltern der anderen. Bestimmte Probleme sind durch Aushandeln nicht zu lösen, so lange die sozialen Unterschiede und damit die gesellschaftliche Macht, Entscheidungen zu treffen, so gravierend sind und immer weiter zunehmen.

    1. „Bestimmte Probleme sind durch Aushandeln nicht zu lösen, so lange die sozialen Unterschiede und damit die gesellschaftliche Macht, Entscheidungen zu treffen, so gravierend sind und immer weiter zunehmen.“
      Eben noch hatten Sie aber doch das Aushandeln angemessener Vergütungen in Tarifverhandlungen empfohlen. Dann sagen Sie bitte auch, dass sich hier schon die Katze in den Schwanz beißt und die Gewerkschaftsverdrossenheit der Unterbezahlten in der Pflege genau daher rührt, dass sich die Gewerkschaftsbosse Spitzengehälter zubilligen, und dann bei Tarifverhandlungen auf Staffelungen einlassen, die in den Pflegeberufen zu beschämenden Vergütungen führen und in keinem Verhältnis zur Wichtigkeit der Menschen in den betreffenden Funktionen stehen. Heute Abend gesehen: „Fakt ist“ (siehe https://www.mdr.de/fakt-ist/index.html). Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt (sinngemäß): Nach Bewältigung der Pandemie wird das Tarifsystem der Pflegeberufe nicht wieder zu erkennen sein. Wer’s glaubt.

    2. es ist leider richtig, dass mitarbeiter/-innen in vielen sozialen berufen gewerkschaftlich nicht ausreichend organisiertt sind. Viele denken, wenn schon schlecht bezahlt, spare ich mir wenigstens den gewerkschaftsbeitrag, ich erhalte ja den gleichen lohn. Aber es zeigt sich ist der gewerkschaftliche organisationsgrad besser, verbessern sich schritt für schritt auch arbeitsbedingungen und lohnniveau. Auch habe ich den eindruck, dass unser bildungssystem wenig interesse hat, die rolle und wichtigkeit gewerkschaftlicher organisation zu vermitteln…Auch hier besteht nachholbedarf! So’ne spontan-idee, wie wäre es denn mit einer steuerfinanzierten lohnpauschale für bestimmte systemrelevante berufe?

      1. …steht doch für diese Jahrzehnte währende Herumbastelei an allen staatlichen Strukturen. Diese müssen aber teilweise radikal erneuert werden, um transparenter, praktikabler und zeitgerechter zu werden/zu bleiben. Und haben wir nicht durch die aktuelle Corona-Krise gelernt, dass es gerade auf der Versorgungsebene gar keine mehr oder weniger systemrelevanten Berufe gibt? Da sind doch die Verkäuferin in der Bäckerei oder im Supermarkt, die Kranken- oder Altenpflegerin usw. genau so wichtig wie der Gebäudereiniger, der Müllmann, der LKW-Fahrer und wer auch immer. Nichts gegen Zulagen für berufliche Leistungen, die auf besonderen Fortbildungsbemühungen oder belastenden Arbeitsbedingungen beruhen. Und wie der oben zitierte Reiner Haseloff richtig feststellte, müssten sich vielleicht eine ganze Reihe von Vertretern traditionell privilegierter Berufssparten, deren Vergütungssysteme mittelalterlichen Pfründen ähnlicher sind als leistungsgerechten Lohnstufen, auf eine gewaltige „Umverteilung“ einstellen. In unserer Gesellschaft ist noch immer viel zu vieles „gewachsen“ und wird in biedermeierlichen Schrebergärten sorgsam gehegt und gepflegt. Aber jetzt ist die Zeit des radikalen Heckenschnitts gekommen. Der Garten, in und von dem möglichst viele gerecht leben sollen, bedarf einer Neuanlage. Jetzt wäre die Zeit reif für das bedingungslose Grundeinkommen, eine Bürger-Versicherung und eine Rentenkasse, in die wirklich jeder einzahlt, eine kostendeckende Pflegeversicherung usw.
        Das Argument, dies alles sei unbezahlbar, ist angesichts der Billionen, die jetzt zwecks Rettung der gesamten Volkswirtschaft mobilisiert werden sollen, ein und für allemal entkräftet. In wirtschaftlichen Krisenzeiten den Gedanken der Inklusion nicht aufzugeben – das ist ja wohl das Anliegen des oben abgedruckten Appells – ist bei einer die Gleichheit und Solidarität betonenden Erneuerung der Grundstrukturen von Staat und Gesellschaft wesentlich leichter zu erfüllen, ja fast schon eine Art sebstverständlicher Nebenwirkung.

  2. Mehr als Applaus verdient
    Betreff: Die Vergessenen

    Gut beschrieben ist die Arbeit in der Behindertenhilfe/ bei den Schottener Sozalen Diensten.
    Wichtig ist mir noch, darauf hinzuweisen, dass Behindertenhilfe und Pflege bereits vor Corona chronisch unterfinanziert und dadurch unterbesetzt waren, nun wird an und bis über die Belastungsgrenzen hinaus gearbeitet…
    Das Personal der pflegenden Berufe, und die Übergange zur Behindertenhilfe sind fließend, hat mehr als schulterklopfenden Applaus verdient: Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Gesundheits- und Sozialsystem eine bessere Grundlage benötigen. Statt marktwirtschaftlich funktionieren zu müssen, muss der Schwerpunkt darauf liegen, gesellschftlichen Nutzen zu stiften… Hierbei verdient auch das Personal der Behindertenhilfe einen angemessenen höheren Lohn.
    Wir sollten wissen, was ein soziales, nachhaltiges Gesundheitssystem uns Wert ist. Hier sind Politik, Arbeitgeber und Gesellschaft gefordert!

    Jo Biermanski, 36304 Alsfeld
    Mitarbeiter+ Betriebsrat Heim Homberg/ Schottener Soziale Dienste

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