Gesellschaft4

Kolumne von Jessica Engel#PickTrick

KOLUMNE|Abhängigkeit, Machtmissbrauch, Verteidigung, Selbstbestimmung und Sexismus: Ist ein unüberlegt herausgerutschtes „Hey Süße“ heutzutage denn schon zu viel? Damit beschäftigt sich Jessica Engel aus Heimertshausen in ihrer ersten Kolumne für Oberhessen-live.

Abends vor dem zu Bett gehen werden bei uns die Schulranzen für den nächsten Tag gepackt. Trotz aller guten Vorsätze kommt es vor, dass das Pausenbrot vom Morgen noch in der Dose vor sich hin gammelt. Das verliert über den Tag enorm an Attraktivität und bis abends wird es maximal noch bedauernd betrachtet. Aus dem Hasenbrot wird bei uns über Nacht Hühnerbrot. Wenn nun das Brot zudem auch noch mit Wurst belegt ist, gibt es neben unseren sieben Hühnern und den sich überall selbstbedienenden Spatzen, noch jemand, der großes Interesse beteuert. Der Hund! Ein nicht diskutierbares Rassemerkmal unseres Beagles ist die ständig vorhandene Gefräßigkeit.

Wandert das Brot in den Hühnertrog ist der Hund ständig bemüht, dass auch seine Interessen gewahrt werden. Er unternimmt ein Vielfaches an Anstrengung, um in den Hühnerpferch hineinzukommen und sich einen Teil vom Naschwerk zu erbeuten. Zu Beginn waren die Hühner überrascht, flohen ängstlich gackernd davon und überließen dem Hund ihre Leckereien. Täglich gingen sie leer aus. Es dauerte nicht lange, da entschieden sich die Hühner eine andere Strategie zu verfolgen. Sie waren vor dem Hund am Ort des Geschehens. Kam der Übeltäter hinzu, griffen sie an und verteidigten den gefüllten Trog. Das hat geklappt! Die Hühner hielten den Hund mit gezielten Pickattacken auf die Nase fern. Er bekommt jetzt nur noch das, was sie bereit sind ihm zu überlassen. Wer behauptet Hühner seien dumm, irrt sich!

„Ich bin der Sünder und muss die Beichte ablegen“

Woran mich diese Szene erinnert? Zum Beispiel an Abhängigkeit und Machtmissbrauch, an Verteidigung und Selbstbestimmung.

Anfang des Jahres blieben mir zwei kleine Artikel in der Zeitschrift „emotion“ im Hals stecken. Eine Sexismus-App wurde vorgestellt, die „ so niedrigschwellig“ wie möglich gehalten wurde, damit jeder das Gefühl bekam einen virtuellen Button drücken zu müssen, um „die große Dunkelziffer“ aufzuzeigen. Ich erfuhr, dass ein unüberlegt herausgeschlüpftes „Hey Süße“  heutzutage keine Kleinigkeit mehr ist.

Genauso wenig wie das Thema neu ist wird es einfach nicht alt. Es bläht sich auf wie ein Luftballon, den Inhalt pusten die Sensibelsten unter uns hinein. Ich überlege wie oft ich den Button drücken müsste und fühle mich trotzdem nicht genötigt. Wenn die Messlatte in unerreichbare Höhen steigt, bin ich der Sünder und muss die Beichte ablegen.

Auf schlüpfrige Adjektive fasten und auf Ostern freuen

Als Kind der 90er ist es durchaus möglich, dass meinen Lippen ein leises Seufzen entflieht sobald ich Marky Mark in Calvin Klein Unterwäsche länger als drei Sekunden betrachte. Wie oft müssten die Jungs vom Männerballett wegen mir den Button drücken? Ich habe zu den testosterongeschwängerten Hupfdohlen schon Dinge gesagt, für die einige meiner Genossinnen definitiv gebuzzert hätten. Ich hoffe keiner hat an meinen östrogenhaltigen, schlampig dahingelästerten Wörtern ernsthaft Schaden genommen. Vielleicht sollte ich die Fastenzeit dazu nutzen mich anständiger zu benehmen. Ich würde dann schlüpfrige Adjektive fasten und mich auf Ostern freuen. Das Fazit bleibt: Der Lump ist trotz Artikel nicht zwangsläufig männlicher Natur!

Wem diese Debatte sicher nicht mehr gerecht wird, ist denen, die sich wünschen es wäre bei einem „Hey Süße“ geblieben. Denen, die keine Kampagnen verfolgen können, um die Ungerechtigkeit, die ihnen wiederfährt erkennen zu können. Mich macht es sprachlos, dass junge Menschen den Unterschied zwischen Missbrauch und einem Arztbesuch nicht erkennen, dass Eltern ihre Kinder verkaufen, dass die Finanzierung von Frauenhäusern auch in einem reichen Land nur aus einem fadenscheinigen Flickenteppich besteht. Ich wünschte es gebe einen Impfstoff, denn das alles heilt kein Druckknopf der Welt.

Aufklärung und Selbstbehauptung gegen multimediale Hetzjagd eingetauscht

Doch die Tatsache, dass ein gesungenes „I wanna hold your hand“ schon zu viel sein könnte, ist niederschmetternd.  Hätte es in meinem Leben kein „Hey Süße“ gegeben, würden die wundervollsten aller Kinder nicht mit mir zusammen wohnen. Aufklärung und Selbstbehauptung werden – wie so oft – gegen eine multimediale Hetzjagd eingetauscht.

Blättere ich nur eine Seite dieser gefühlvollen Zeitschrift weiter, sticht mir der zweite Artikel ins Auge. Der Fotograf Albert Pocej präsentiert sein neuestes Fotoprojekt „Frauen beim Orgasmus“, um der weiblichen Lust ein Gesicht zu geben. Natürlich, die männlich kennt man aus den „ab 18“ Filmen, das Pendant dazu hat ohne Frage gefehlt! Die „stilvollen“ Bilder kann sich der Leser dieser Zeitschrift auf der beworbenen Internetseite anschauen. Danke Albert für die tolle Idee, die dir im Schlaf gekommen ist.

Irgendwie habe ich auch gerade das Gefühl zu träumen. Texten so etwas die gleichen Journalistinnen, die unter einem „Hey Süße“ leiden? Ein tierisches Zitat von Erich Kästner kommt mir in den Sinn: „Die ersten Menschen waren nicht die letzten Affen.“  Sie können aber von meinen Hühnern lernen.

Gegen ein Maul ist ein Schnabel gewachsen – und umgekehrt. Und das ist gut so!

Glückauf, eure Jessi

4 Gedanken zu “#PickTrick

  1. @ Michael Hansen
    Was soll das denn heißen, „heikle Themen ohne akademische Überspitzung oder sabbernde Lefzen“ anzugehen, zu diskutieren und zu beurteilen“? Was wäre denn die „akademische Überspitzung“ des Themas #meetoo? Von Diskussionen oder Beurteilungen mit „sabbernden Lefzen“ mal ganz zu abgesehen. Welche konkreten Beispiele fallen Ihnen dazu ein? Für eine gute Kolumne würde es mir ausreichen, wenn jemand in einer klaren Sprache und auf unterhaltsame Weise seine individuelle Sichtweise vermitteln könnte.

  2. Mit der alten,korrekten und ernstgemeinten Anrede:
    Sehr verehrte Frau Engel,
    behalten Sie bitte diesen „fabel“-haften Stil bei!
    Damit können Sie manchem von uns dann immer wieder vor Augen führen,wie man auch heikle Themen ohne akademische Überspitzung oder sabbernde Lefzen angehen,diskutieren und beurteilen sollte.
    Mein nichtschulmeisterliches Urteil : 14 Punkte ?

  3. >> Wem diese Debatte sicher nicht mehr gerecht wird, ist denen, die sich wünschen es wäre bei einem „Hey Süße“ geblieben. <<
    Ein paar Jahre meines Lebens musste ich aus rein beruflichen Gründen Deutschaufsätze junger deutscher Menschen korrigieren. Meistens zu später Stunde. Da konnte es passieren, dass man vor so einem Satz mit blutleerem Gehirn lange ratlos gegrübelt hat.
    Denn einfach mal mit roter Tinte unterschlängeln und ein großes Fragezeichen an den Rand malen… Das durften vielleicht noch unsere aus Kriegsgefangenschaft spät heimgekehrten Lehrer. Ich war gehalten, sprachliche Alternativen anzubieten. Sprich: Im Namen der/des Aufsätze verfassenden Schutzbefohlenen einen neuen Aufsatz oder zumindest Absatz zu schreiben, in dem ich mit der gebotenen Sensibilität der Frage nachspürte, wem es wohl ist, denen sich da wünschen, niemals geboren worden zu sein. Da wünscht man sich als Lehrer/Lektor/Ghostwriter usw. den "Hüte dich vor überambitionierter Ausdrucksweise"-Buzzer.
    Zum Glück der einzige Punkt für eine gezielte Pickattacke. Mir gefällt die Betrachtung der #metoo-Thematik aus der Perspektive eines ländlichen Familienalltags ausgesprochen gut. Habe ich in dieser Form noch nirgends gelesen. Sehr stimmige und echte Bilder, um darzustellen, wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander (inklusive der naturwüchsigen Verständigung zwischen den eigentlich inkompatiblen Lebenswelten von Huhn und Hund) sich bei symmetrischer Kommunikation normalerweise ausbalanciert. Oder muss man inzwischen sagen: früher sich noch von selbst regeln konnte?
    Da, wo der Text unglücklicherweise ein wenig holpert, liegt natürlich auch der Knackpunkt des Themas. Im Umfeld von Donald Trump oder Dieter Wedel, beide übrigens verwöhnte Söhne aus reichem Hause, die schon sehr früh lernten, die Welt in "Ebenbürtige" und "Dienstboten" einzuteilen, wird rauschhaft Macht ausgeübt. Da gibt's keine Kommunikation auf Augenhöhe. Um im ländlichen Idyll zu bleiben: Was die Hühner einem domestizierten Beagle als Lektion verpassten, wäre ihnen beim Kontakt mit einem Marder übel bekommen. Und darum geht's eigentlich, wenn man nicht immer nur "hilflos zuschauen" will. Wir müssen die Marder auf Distanz halten. Das ist das Prinzip einer aufgeklärten, gerechten, auf sozialen Ausgleich angelegten Gesellschaft. Und die hat Regeln, ohne unangemessen einzuengen und ständige Hexenjagden zu provozieren. Die so genannte "Deregulierung", mit der man die Kräfte der Wirtschaft zu "entfesseln" hoffte, während der Rest so bleiben sollte, wie er war, lässt sich eben nicht domestizieren und isolieren wie der Milzbranderreger im Forschungslabor. Wo das Prinzip der Profitmaximierung die Oberhand gewinnt, kommt erst der homo oeconomicus, dem alles käuflich ist und der sich zu jedem Preis verkauft, und dann der "bellum omnium contra omnes" (Krieg aller gegen alle). Sorgen wir für Verhältnisse in unserer Gesellschaft, unter denen "gegen ein Maul ein Schnabel gewachsen" ist "und umgekehrt". Das klingt als Problemlösung vielleicht bescheiden. Aber genau das ist der Punkt!

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