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Kolumne: "Rike's Report" am Samstag: Toleranz mit den Intoleranten?„… geht die Welt zugrunde (?)“

Hand auf´s Herz: Würden Sie sich als tolerant bezeichnen? In der heutigen Zeit gibt es viele Dinge, an denen man seine Schmerzgrenze diesbezüglich austesten kann: Vegetarier, Teenie-Mütter, das fliegende Spaghettimonster – und vieles mehr, das leider oft zu wenig Verständnis erfährt. Mir persönlich ist es egal, wer wen wieso wann liebt, oder ob jemand seine Pizza mit maximal pigmentierten Händen oder gepunkteten Füßen isst. Doch auch meine Toleranz ist nicht so mustergültig, wie ich gehofft hatte. Zumindest dann nicht, wenn ich auf Intoleranz stoße.

Bereits in meiner Kindheit habe ich gelernt, dass wir alle verschieden sind: Dick und dünn, klein und groß, hell und dunkel – und dass wir trotzdem alle eins sind: Erdenbürger. Als ich älter wurde, erweiterte sich mein Horizont: Ich lernte Worte wie „homosexuell“ kennen, gewann eine lesbische Dunkelhäutige als die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann, begegnete Personen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Ich reiste ins Ausland, lernte fremde Sprachen, aß exotische Gerichte. Und siehe da: Ich blieb trotzdem dabei: Mensch ist Mensch.

Doch seit ich in Gießen wohne und ohne Auto (der kleine schwarze Clio, Sie erinnern sich vielleicht?) mein Dasein fristen muss, überdenke ich dieses Credo gelegentlich. Denn erstens: Ich fahre jeden Tag Bus. Zweitens: Ich falle jeden Tag aufs Neue fast vom Glauben ab. Denn in den letzten Wochen wurde mir bewusst, dass ich nicht alle Meinungen und die dazugehörigen Mitbürger, mit einer bedingungslos toleranten Einstellung respektieren kann. Und nach reiflicher Überlegung, bin ich der Meinung: Das ist auch völlig in Ordnung.

Es war ein Donnerstag und ich kam gerade aus der Uni. Ich hatte Hunger, war müde und musste auf Toilette – ein ganz normaler Tag. Fast jedenfalls, denn eigentlich war er ein bisschen süßer als sonst: Vor mir im Kinderwagen saß ein kleines blondes Mädchen, das friedlich an ihrem Daumen nuckelte und mich dabei aus großen Kulleraugen ansah. Die Mutter hatte eine Hand lässig am Wagen, mit der anderen tippte sie in ihr Handy. Vermutlich um die Musik, die nervig laut aus ihren Kopfhörern schallte, noch ein bisschen unerträglicher zu machen.
Umso verständlicher, dass sie das Weinen ihres zweijährigen Kindes erst realisierte, als es schon den ganzen Bus unterhielt. Umso unverständlicher, dass sie einen ihrer Hörer kurz zur Seite schob, sich zu der Kleinen hinunter beugte und sagte: „Boar sei doch mal still, ey!“ Die kannte derartige Reaktionen scheinbar schon, denn sie steckte den Daumen zurück in den Mund, machte die Augen zu und war leise. Oh, Sie können mir glauben: Mir lag so einiges auf der Zunge. Vielleicht war ich zu müde, vielleicht zu hungrig und vielleicht war ich der Meinung, es ginge mich einfach nichts an. Ich sagte zumindest nichts, steckte den Daumen zurück in den Mund, machte die Augen zu und war leise.

Diese Begegnung war noch lange Zeit danach in meinen Gedanken präsent. Denn obwohl ich selbst noch keine Kinder hatte, die ich erziehen musste, war ich sicher: Ganz so knigge war ihr Verhalten nicht gewesen.

Wer das Hirn beim Gegenüber nicht findet, sucht es woanders. Hier: Im Tegut.

Wer das Hirn beim Gegenüber nicht findet, sucht es woanders. Hier: Im Tegut.

Zu meinem Leidwesen muss ich sagen: Es war nicht das einzige Mal, dass ich mich in einer derartigen Situation wiederfand. Und das letzte Mal schon gar nicht. Ich erinnere mich beispielsweise an einen sonnigen Mittag: Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien, alle in der Linie 7 Richtung Philosophenwald waren glücklich. Alle? Nein, nicht alle: Ein älterer Herr war vor uns mit seinem Rollstuhl am Bordstein hängen geblieben. Statt ihn zu überrollen, entschied sich der Busfahrer dafür, ihm über die Straße zu helfen. Dies geschah allerdings ganz zum Leidwesen eines Mannes mittleren Alters, der sich bis zu seiner Haltestelle zehn Minuten später, lautstark fragte, wieso der Rollstuhlfahrer alleine unterwegs sein dürfe. Immerhin hatte er uns eine einminütige Verspätung eingebrockt! Also wirklich, was sich manche Menschen erlauben: Lässt man doch allen Ernstes gehbehinderte Mitmenschen alleine auf die Straße, damit sie uns das Leben schwer machen. Tz tz tz..

Wie ich nach einigen Wochen herausfand, wohnte besagter Nörgler in meiner Nachbarschaft. Zumindest fuhr er gefühlt immer dann mit dem Bus, wenn ich es auch tat. So wunderte es mich nicht, dass er so manches Mal zum Highlight meines Tages wurde: „Hier, ne, Frank. Der Schreiner da von nebenan, gelle Ich sag dir: Der macht seine eigene Schwester dick! ‚Insucht‘ ist das. Echt ‚Insucht’“, informierte er vor wenigen Tagen Frank, welcher bekräftigend nickte. Ich schickte mir selbst ein Memo: Von Schreinern mit schwangeren Schwestern fernhalten. Und keine fremden Männer während der Busfahrt bezüglich ihrer fragwürdigen Grammatik behelligen.

Trotz allem Stirnrunzeln und Kopfschütteln muss ich sagen, dass ich sehr froh bin, Menschen wie ihn jeden Tag sehen und hören zu dürfen. Sie können sich nicht vorstellen, was ich schon alles gelernt habe! Vor allem im Themenbereich „Ausländer und Flüchtlinge“, weiß ich nun bestens Bescheid – oh, Pardon. Ich meine natürlich im Bereich „Ach alle schwarz, alles Ausland, alles gleich“. Unter anderem bin ich nun jedenfalls darüber informiert, dass alle dunkelhäutigen Menschen arbeitslos sind. Zumindest wenn man jemandem Glauben schenken möchte, der einem (dunkelhäutigen) Mann, der ihm nicht schnell genug über die Straße ging, am Busbahnhof hinterher rief: „Ach komm, fahrt den einfach um. Immer diese Kanaken. Ein Hartz-IV-Empfänger weniger!“ Welchen Job er selbst sein Eigen nennt, weiß ich bis heute nicht.

Doch nicht nur im Beruflichen, sondern auch im familiären Umfeld dieser ‚Alles Ausland-Menschen‘ scheinen sich einige Mitbürger bestens auszukennen: Mit einer handvoll Schwestern im Gepäck überraschte mich die Aussage einer älteren Dame, die mit ihrer Freundin vom Kaffeeklatsch kam. Mit zugekniffenen Augen starrte sie einen (erneut dunkelhäutigen) Mann an, der einen Kinderwagen schob. „Immer diese ganzen Kinder, schlimm, echt schlimm. Die Deutschen bekommen ja wenigstens nur so drei Stück. Aber die Ausländer, die mindestens mal so fünf oder sechs.“ Woraufhin ihre Sitznachbarin antwortete: „Jaja, die machen immer so viele wie möglich auf einmal.“

Dass Letzteres medizinisch nicht ganz korrekt war, behielt ich für mich. Das war auch besser, denn so hatte ich die Chance, mich tags darauf erneut den netten Damen im Bus gegenüberzusetzen. Und das ohne von ihren Krückstöcken malträtiert zu werden.
Sie enttäuschten mich nicht: Mit ihrem eingegipsten Arm wedelnd berichtete eine der Ladys von einem Vorfall am Mittag. „Diese Ausländer. Vorhin hat mir so ein Schwarzer gegen den Gips gehauen. Das war Absicht. War ein Flüchtling. Weiß ich genau, die machen so was.“ Ich glaube, sie wäre am Liebsten hyperventiliert, um dem Ganzen noch einen gewissen Touch zu verleihen. Nichts geschah. Aber wenigstens hatte sie ihre Busenfreundin mit, die den Rest der Fahrt mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen ihre schweißnasse Hand tätschelte. Ich behielt die meine, wo sie war.

Hätte ich mehr Raum und Zeit, könnte ich noch viele Seiten mit derlei Anekdoten füllen. Doch ich bin mir sicher, dass die Semantik auch bei jenen in den letzten Reihen angekommen ist: Nobel geht die Welt zugrunde? Wohl eher hirnlos, intolerant und voreingenommen. Ich denke nicht, dass ich meine ausschweifende Meinung bezüglich der Glaubwürdigkeit dieser Personen und ihrer Aussagen näher erläutern muss.
Dennoch würde ich zum Ende gerne noch eine Frage in den Raum werfen: Muss ich wirklich allem gegenüber Verständnis zeigen, selbst wenn es vor Intoleranz nur so strotzt? Ich gebe zu, es fällt mir oft schwer, mich zurückzuhalten. Dann schwanke ich zwischen Wut und dem Wunsch, Partei zu ergreifen für jene, die ihre Stimme nicht erheben können. Und dem Wissen, dass jeder Mensch, so falsch ich sie auch finden mag, ein Recht auf seine eigene Meinung besitzt.

Vielleicht schaffe ich es, wenn ich älter bin, nach weiteren Jahren voller ferner Länder, fremder Sprachen und exotischer Gerichte dem Wanken ein Ende zu setzen. Aber bis dahin ein sehnliches Flehen an all jene, die sich in den Erzählungen wiedergefunden haben: Die Gedanken sind frei. Aber meiner armen Ohren und meiner zarten Gehirnwindungen zuliebe: Behalten Sie sie dort, wo sie niemand hören kann. Und sollte Ihr Wunsch irgendwann in Erfüllung gehen, dass manche Menschen aus Deutschland ausrangiert werden – dann melden Sie sich bei mir. Ein paar Personen könnte ich auf jeden Fall mit auf die Liste setzen.

 

Und wie geht die Welt für Sie zugrunde?

Ihre Rike

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