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Weltweit sind viele Menschen an Leukämie erkrankt. Wie geht man mit dieser schwierigen Diagnose um? Der ehemalige Patient Lutz Günther aus Wallenrod erzählt.„Wenn man das schafft, dann auch den Rest des Lebens!“

VOGELSBERGKREIS (fg). Eine Runde Joggen am Morgen – das war für Lutz Günther lange Zeit Normalität. Doch im Winter 2012 fällt es dem jungen Mann plötzlich zunehmend schwerer. Er bekommt einen grippalen Infekt, relativ selten für den sonst so fitten Sportbegeisterten. Der Besuch beim Arzt bestätigt zunächst eine Infektionskrankheit, doch noch am selben Abend folgt ein Anruf: Das Blutbild sei ungewöhnlich, ein Besuch der Marburger Klinik unbedingt notwendig. Wenige Tage später erhält der damals 22-Jährige die Diagnose: Leukämie.

„Alle 15 Minuten erhält ein Patient in Deutschland die Diagnose Blutkrebs.“ – mit diesem Slogan möchte die Deutsche Knochenmarkspenderdatei, kurz DKMS, auf ihrer Website auf die weit verbreitete Krankheit aufmerksam machen. Was auf den ersten Blick schockiert, ist auch auf den zweiten nicht weniger beunruhigend: Rund 11.500 Erkrankte jährlich zählt die Statistik allein in Deutschland, davon sind rund 5% jünger als fünf Jahre. Doch was ist Leukämie? Und was macht diese Krankheit so gefährlich?

Blutarmut und Infektionsgefahr – Leukämie belastet den Körper

Leukämie, oder auch Blutkrebs, ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen des blutbildenden Systems, beziehungsweise des Knochenmarks, und bedeutet soviel wie „Weißes Blut“. Dabei entstehen im menschlichen Körper unreife Leukozyten, welche nicht voll funktionsfähig sind. Normalerweise sind diese weißen Blutkörperchen unter anderem für die Abwehr von Krankheitserregern zuständig. Im Falle einer Blutkrebserkrankung vermehren sich die anormalen Blutzellen jedoch unkontrolliert – und verdrängen dabei gesunde weiße und rote Blutkörperchen, sowie Blutplättchen.

Die Folgen sind Blutarmut, Infektionen, Blutgerinnungsstörungen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Erkrankung den ganzen Körper betrifft und nicht auf bestimmte Regionen begrenzt ist. Denn die fehlerhaften Leukozyten verbreiten sich mit dem Blut im gesamten Organismus. Besteht der Verdacht auf Leukämie, wird schnellstmöglich gehandelt: Untersuchungen des Blutes, der Rückenmarksflüssigkeit und der inneren Organe sind nur Beispiele für die zahlreichen Kontrollen.

Und damit noch nicht genug: Wird der Verdacht bestätigt, dass es sich bei der Krankheit des Patienten um Blutkrebs handelt, beginnt die Behandlung. Diese setzt sich in den meisten Fällen aus drei Phasen zusammen: Zunächst wird in der Induktionstherapie versucht, möglichst alle Krebszellen zu zerstören, beispielsweise durch eine Chemotherapie. Anschließend klingen die Symptome des Betroffenen bestenfalls ab. In der darauffolgenden Phase, der Konsolidierungstherapie, werden die Ergebnisse geprüft und verbliebene, betroffene Zellen vernichtet. Das geschieht unter anderem durch die Verwendung von Medikamenten.

Anschließend werden während der Erhaltungstherapie die Ergebnisse erneut überprüft, stabilisiert und Maßnahmen vorgenommen, um eventuellen Rückfällen vorzubeugen. Diese Prozeduren sind für die Patienten sehr kräftezehrend und sowohl körperlich, als auch psychisch fordernd. Auch der inzwischen 26-jährige Lutz Günther ist ein solcher Patient: 2012 erhielt er die Diagnose Leukämie. Heute, fast vier Jahre später, blickt er auf eine ereignisreiche und schwierige Zeit zurück.

Eine Zahl, die schockiert: Alle 15 Minuten erhält ein Mensch die Diagnose, dass er an Blutkrebs leidet.

Chemotherapie statt Plätzchenbacken

Ein grippaler Infekt, statt Plätzchen backen mit der Freundin – so hatte sich Lutz Günther seine vorweihnachtliche Zeit mit Sicherheit nicht vorgestellt. „Es war komisch, so etwas hatte ich davor noch nie“, so der damalige Chemiestudent. Doch bei einem einfachen Infekt blieb es nicht: Bei der Untersuchung stellt der Arzt rote Punkte an Armen und Beinen des Patienten fest. In der Marburger Uni-Klinik wird er noch am selben Abend vorsichtshalber isoliert und erhält bereits kurz darauf erste Hinweise, dass es sich bei seinen atypischen Blutergebnissen vermutlich um Leukämie handelt.

Es folgen weitere Untersuchungen: EKG, Herzultraschall, Knochenmarkpunktion – und dann die Gewissheit: Es handelt sich um Lymphatische Leukämie. „Ich glaube für meine Verwandten und Freunde, für mein Umfeld war es viel schlimmer als für mich selbst. Auch für meine Freundin, wir führten eine Fernbeziehung und hatten meist nur Kontakt via Skype“, erinnert sich der gebürtige Wallenröder. Da er die Diagnose über Tage hinweg nach und nach erfahren habe, war genug Zeit um sich Gedanken zu machen. „Es hat mich natürlich aus dem Leben gerissen, aber ich habe mich auf die Ärzte verlassen.“

Von Anfang an war klar, dass eine Chemotherapie unerlässlich sein würde. Bereits am dritten Tag nach der Einlieferung beginnen die Ärzte mit dem ersten Zyklus. Bei einer Chemo wird die Leukämie mit chemischen Substanzen bekämpft. Diese sogenannten Zytostatika greifen in den Vermehrungszyklus der Krebszellen ein und hemmen somit deren Wachstum. Da diese Form der Therapie die Zeugungsfähigkeit stark beeinflussen kann, besuchte Lutz Günther eine Kinderwunschklinik: „Diese Option wollte ich mir offen halten.“ Nach Beendigung des ersten Zyklus kurz vor Weihnachten, durfte er am 4. Advent nach Hause, eine kurze Verschnaufpause in dieser schwierigen Zeit, in der er wieder bei seinen Elten in Wallenrod einzog. Glücklicher Weise hatte der Mitte 20-Jährige die Chemo gut verkraftet, die folgende Bestrahlung jedoch, eine weitere Form der Krebsbehandlung, führte zu Beschwerden: „Es war sehr belastend, ich musste mich oft übergeben und war sehr kraftlos“, berichtet er.

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Neben der Behandlung mit Medikamenten und der Bestrahlung, gibt es eine weitere Form der Therapie bei Leukämieerkrankungen: die Stammzell- beziehungsweise Knochenmarktransplantation. Stammzellen sind Zellen des Körpers, aus denen sich ein Leben lang alle Zellen der Blutbildung entwickeln können. Dabei können diese sowohl vom Patienten selbst, als auch von einem passenden Fremdspender kommen. Bei der Knochenmarktransplantation soll somit das durch die Erkrankung angegriffene blutbildende System wieder aufgebaut werden.

Doch diese Form der Therapie birgt Schwierigkeiten: Um als Spender für einen Patienten in Frage zu kommen, müssen die sogenannten HLA-Merkmale beider Menschen möglichst ähnlich sein, um eine Abstoßungsreaktion des Körpers zu vermeiden. Diese „Human Leukocyte Antigene“ bilden sozusagen eine individuelle Zeichnung, welche von Mensch zu Mensch verschieden ist und dem Immunsystem die Differenzierung zwischen körpereigenen und körperfremden Strukturen ermöglicht.

Relevant ist es somit, dass diese Merkmale so übereinstimmend wie möglich sind – für viele Erkrankte bedeutet dies, die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Denn identische HLA-Merkmale finden sich nur bei eineiigen Zwillingen, andere Familienmitglieder kommen leider nur in wenigen Fällen als Spender in Frage. Die höchste Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung findet man unter Geschwistern, bei ihnen beträgt sie circa 25%. Folglich ist die Suche nach einem passenden Spender oft langwierig und leider nicht immer erfolgreich.

Auch Lutz Günther war diese Tatsache schmerzlich bewusst: Über verschiedene Spenderdateien, unter anderem die DKMS und die VKS, wurde versucht, für ihn einen „genetischen Zwilling“ zu finden. Doch trotz der zeitlich unabsehbaren und schwierigen Situation, konnte sich der Hobby-Fußballer glücklicherweise immer auf seine Mitmenschen verlassen. Denn nicht nur von Ärzten und Verantwortlichen erhielt er Hilfe: Anfang März 2013 veranstaltete der Sportverein Leusel, für den Günther vor seiner Erkrankung spielte, eine Typisierungsaktion. In diesem Zuge kamen zahlreiche Helfer, Mitarbeiter der DKMS, Ärzte und viele mehr in die Mehrzweckhalle nach Leusel.

Das Ziel einer solchen Veranstaltung ist es, möglichst viele Menschen auf die Problematik der Leukämie aufmerksam zu machen, sodass sie im besten Fall eine Typisierung vornehmen – denn: Nur eine zahlreiche Registrierung von potentiellen Spendern ermöglicht es, eine deutschlandweite und teilweise auch länderübergreifende Datei anzulegen. Und klar ist: Je mehr Menschen registriert sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen Erkrankten den passenden Spender zu finden.

Dessen war sich auch Frank K.* bewusst: Der 47-jährige Kölner hat bereits Stammzellen gespendet – und damit einem völlig fremden Menschen vermutlich das Leben gerettet: „Zur Registrierung kommt man wohl erst, wenn es jemand im näheren Umfeld trifft, vorher ist das alles gar nicht aktuell“, erzählt er. Es mache ihn stolz, dass es jemanden gebe, dem er habe helfen können – aber auch nachdenklich, wer das sei, der fast gleiche Mensch, der „genetische Zwilling“. Doch er bereut nichts: „Danach gab es für mich keine Überlegung, ob ich noch zu meiner Spende stehe. Nach etlichen Untersuchungen fühlte ich mich pudelwohl“, sagt er und zieht ein positives Fazit: „Alles bestens und jederzeit wieder!“

Ein Benefiz-Handballspiel zugunsten des ehemaligen Leukämie-Patienten Lutz Günther.

Auch die Verantwortlichen für die Aktion in Leusel können sich über den Ausgang ihrer Veranstaltung zu Recht freuen: Über 1.500 Menschen ließen sich an diesem Tag registrieren und sind nun Teil der DKMS. Ein Erfolg, den auch Lutz Günther zu schätzen weiß, obwohl an diesem Tag kein passender Spender für ihn gefunden wurde: „Ich befand mich damals in einem Zwiespalt: Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen passt, war wahnsinnig gering, aber sie können nun anderen Menschen helfen. Ich habe wenig Hoffnung gehabt, dass sich nach der Aktion bezüglich meiner Krankheit etwas ergibt. Aber sie hat mir Mut gemacht, dass so viele daran glauben und mich unterstützen.“.

Die lebensrettende Spende – „Es geht weiter, es kann besser werden.“

Und genau dieser Mut hat sich bezahlt gemacht: Nur wenige Wochen später, Ende März 2013, wurde ein passender Spender gefunden. „Zunächst hatten wir eigentlich gehofft, dass einer meiner Geschwister passen würde, aber das hat niemand von den Dreien“, so Lutz. Umso größer war die Erleichterung als endlich fest stand: Es gibt einen genetischen Zwilling, der bereit ist zu spenden. „Im Nachhinein habe ich erfahren, dass der Mann sich die Spende gut überlegt hat. Er hatte gerade sein zweites Kind bekommen, das kann ich verstehen. Aber er hat sich Gott sei Dank dafür entschieden und hatte keine Nebenwirkungen“, erzählt der glückliche Empfänger.

Für ihn selbst, die Familie und Freunde sei es ein großer Stein gewesen, der vom Herzen fiel: „Das war ein großer Hoffnungsschritt: Es geht weiter, es kann besser werden.“ Und das wurde es: Circa fünf Wochen nach der Transplantation konnte der Patient das Krankenhaus wieder verlassen. „Ich musste noch im Rollstuhl sitzen, zwei Mal in der Woche musste ich nach Marburg zur Blutuntersuchung fahren“, erzählt Lutz. „Kurze Zeit später ist meine Familie drei Wochen in den Urlaub gefahren, ich konnte sie teilweise begleiten“, berichtet er – „Das war ein guter Schritt.“. Und auf diesen folgten noch weitere: Nach und nach konnte er wieder Familiengeburtstage besuchen, sich mit Freunden treffen.

„Die ersten Monate sind mir sehr schwer gefallen“, er habe strenge Sicherheitsvorschriften befolgen müssen: Atemmaske, kein Hände schütteln, künstlicher Ernährung und Flüssigkeitszugabe. Doch mit der Zeit besserte sich die Lage: „Ich habe zuhause Physiotherapie erhalten, das hat geholfen. Dann habe ich angefangen jüngeren Schülern Nachhilfe zu geben. Auch von den Ärzten aus durfte ich immer mehr, konnte mehr unternehmen“, erinnert sich Lutz Günther. Bereits ein Jahr später habe er das Studium wieder aufnehmen können, Physik und Chemie auf Lehramt.

Die DKMS ist weltweit mit fünf Standorten vertreten. Auf ihrer Internetseite steht sie für Informationen und Fragen zur Verfügung.

„Es beeinflusst mich immer noch.“

Trotz der erfolgreichen Spende und seiner Genesung, ist für den ehemaligen Patienten Leukämie auch heute noch ein wichtiges Thema: Im November 2015 habe er auf einem Empfang der VKS (Verein für Knochenmark- und Stammzellspenden e.V.) seinen Spender kennen gelernt, erzählt er. „Dort habe ich auch Vorschläge gemacht, wie man weiter auf dieses Thema aufmerksam machen kann, zum Beispiel ein Benefizspiel zu veranstalten zwischen ehemaligen Patienten und Spendern gegen Legenden“, berichtet Lutz. Es sei wichtig sich für das Thema einzusetzen, darüber zu sprechen und die Aufmerksamkeit der Menschen darauf zu ziehen – „Es beeinflusst mich immer noch“, gibt er an.

Ein Jahr hat er gebraucht, um wieder ins Leben zu finden – heute steht der inzwischen 26- Jährige mit beiden Beinen fest drin: Ende Mai heiratete er seine Freundin, die bereits während der Erkrankung immer an seiner Seite stand. Für den angehenden Lehrer steht fest: „Wir haben das alles zusammen durchgestanden und ich habe gewusst: Wenn man so etwas schafft, dann auch den Rest des Lebens!“.

* Name von der Redaktion geändert

Information
Die DKMS, bestehend seit 1991, ist Deutschlands größte Knochenmarkspenderdatei. Weltweit sind momentan 6.358.804 Menschen als potentielle Spender registriert, bereits 56.511 Stammzellspenden für Patienten wurden durchgeführt (Stand Juni 2016). Dennoch suchen weltweit an Leukämie erkrankte Menschen noch immer ihren genetischen Zwilling. Sie sind noch nicht registriert? So einfach geht es: Fordern sie online ihr Registrierungs-Set an und lassen sie ihr Probenstäbchen der DKMS zukommen. Diese registriert sie und benachrichtigt sie, sobald sie als passender Spender in Frage kommen. Weitere Informationen finden sie unter: https://www.dkms.de/de

 

 

 

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