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Kolumne: "Rike's Report" am Samstag: Zeit für Lebkuchen - Juhu!Schatz, es ist September!

Wir schreiben das Jahr 2016. Es ist September. In den Lebensmittelgeschäften schlägt die Stimmung um: Krawall. Tumult. Revolte. Der Grund: Anis, Fenchel, Nelken und eine Prise Zimt. In Form gepresst und mit Schokolade überzogen – aber bitte Zartbitter! Für manche ist dies der alles entscheidende Aufstand nach dem langen Sommerschlaf, die Stunde der Wahrheit. Denn: Der Lebkuchen ist zurück im Supermarktregal. Und er hat zahlreiche Freunde mitgebracht. Meuterei!

Ich gehe gerne einkaufen. Sehr gerne sogar. Und zwar nicht nur Bücher, Schuhe und Klamotten – nein, auch ein kleiner Ausflug in den nächsten Supermarkt schafft es so manches Mal, meine Laune zu heben: Durch die Gänge schlendernd nehme ich mal hier, mal da was aus dem Regal und beobachte nach Lust und Laune die vorbeiziehenden Massen. Noch besser: Ich beäuge ganz unauffällig ihre Einkaufswagen und überlege mir was sie wohl so kochen, ob sie alleine leben, welchen Ernährungsplan sie verfolgen. Kurzum: Ich gehe gerne einkaufen.

Wirklich witzig wird es aber meistens erst an der Kasse: Heimlich, still und leise versucht der alleinerziehende Vater vor mir die Tampons für seine Tochter unter den Cornflakes zu verstecken. Hinter mir schiebt eine 16-Jährige ganz zufällig die genoppten Kondome mit Fruchtgeschmack unter die neue InTouch. Und die ältere Dame am Ende der Schlange stapelt ihr Gemüse so, dass von der Original Wagner Steinofen Pizza nur noch der Strichcode zu sehen ist. Wenn man diese Menschen beobachtet, könnte man fast meinen, für manche Produkte sei eine zusätzliche Geheim-Kasse von Nöten: Aus dem sicheren Korb raus in einen nicht einsehbaren Schacht – und am anderen Ende, schwups, schnell in der Tasche verschwinden lassen. Womöglich sollte man dies dem Team von „Die Höhle der Löwen“ bei Gelegenheit mal vorschlagen – vielen würde es bestimmt den Schweiß auf der Stirn ersparen.

Ich für meinen Teil finde dieses Verhalten lächerlich: Wen geht es etwas an, dass ich zehn Packungen Magnum-Eis kaufe? Es war schließlich im Angebot. Und wenn man auf ein Festival fährt, dann braucht man eben auch mal dreißig Ravioli Dosen. Tz! Ein bisschen mehr Toleranz an deutschen Supermarkt-Kassen, bitte! So richtig aufmerksam auf derlei bornierten Starrsinn wurde ich, als ich von zu Hause auszog. Ab diesem Zeitpunkt musste ich meinen Kühlschrank selbst füllen – und dafür zum Einkaufskorb greifen. Doch was ist das? Hochgezogene Augenbrauen, ein säuerliches Lächeln, ein abwertendes Grinsen. War ich wieder ungeschminkt aus dem Haus gegangen? Hatte ich vergessen, eine Hose drüber zu ziehen? Oder war das Tragen von Pantoffeln außer Haus in Großstädten nicht erlaubt? Sie ahnen es: Es war viel viel schlimmer. Denn: Da lag es. Rechteckig. Rot. Die Aufschrift „Sterne, Herzen, Brezeln“ stach meinen Beobachtern ins Auge. Und mir wurde bewusst: Ich hatte Lebkuchen gekauft. Und das im September.

Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung. - Oscar Wilde.

Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung. – Oscar Wilde.

Dass viele Leute es seltsam, ja sogar unmöglich finden, dass man Lebkuchen in allen Formen und (eindeutig weniger vorhanden) Farben bereits im neunten Monat des Jahres erwerben kann, das wusste ich. Nach einigen Recherchen wurde mir jedoch klar, dass es viel schlimmer um die süßen Leckereien stand, als ich dachte: Zur gleichen Zeit letzten Jahres hatte eine 76-Jährige in Wien einen Lebkuchen-Pappaufsteller angezündet. Zum Motiv machte sie keine Angaben. Meine Vermutung: Nieder mit dem Süßkram! In Deutschland gehen manche Mitbürger sogar so weit, den Verkauf von Lebkuchen vor der Weihnachtszeit gesetzlich zu verbieten. Freunde! Holt eure Mistgabeln raus – wir gehen auf die Barrikaden!

Nein, bleiben wir ernst bei der Sache. Immerhin ist dies eine heikle Angelegenheit für viele. Mich eingeschlossen. Zunächst betrachten wir die Fakten: Die meisten Gegner sind der Meinung, dass Lebkuchen ein weihnachtsspezifisches Nahrungsmittel sei. Somit könne es auch nur im Winter verkauft und gegessen werden. Historische Belege für derlei Behauptungen gibt es allerdings keine: Nirgends steht geschrieben „… und so erfanden die Mönche den Lebkuchen, der nur am Heiligen Abend verspeist werden durfte.“ – oder so ähnlich.* Man könnte fast das Gefühl bekommen, viele in unserem Land würden dem Lebkuchen ein saisonales Etikett verpassen – ein weiteres Argument, das bei mir auf taube Ohren stößt.

Zugegeben, Saison-Nahrungsmittel haben es uns Deutschen wirklich angetan: Kaum kommt der Spargel aus der Erde, gibt es nichts anderes mehr: Spargel mit Kartoffeln, Spargel in Schinken, Spargelsuppe, Spargelauflauf – Spargel, Spargel, Spargel. Genauso verhält es sich mit Erdbeeren: Marmelade, Kuchen, Kompott, Quark – überall scheint die knallrote Sammelnussfrucht ein Stein im Brett zu haben. Sind die letzten vom Feld gepflückt, ist damit dann auch schon wieder Schluss. Es folgen Pilze, irgendwann kommt der Rosenkohl auf den Tisch. Und so weiter und so fort. Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen: Ich kann das vollkommen nachvollziehen und unterstütze den Verzehr saisonaler Produkte. Was mich dann aber doch wundert, ist, wieso man den Lebkuchen mit in diese Sparte steckt: Er wächst nicht auf Bäumen, lässt sich nicht aus der Erde ziehen und auch nicht vom Busch pflücken. Liegt es vielleicht am weihnachtlichen Geschmack: Haben die enthaltenen Nelken, Zimt, Koriander und Co die Last der Schuld zu tragen? Nun: Kirscheis im Januar ist schließlich auch nicht untersagt. Obwohl das so gar nicht der Jahreszeit entspricht.

Natürlich stimmt es: Geschmacklich hat Lebkuchen eindeutigen einen – zumindest assoziieren wir es dementsprechend – winterlichen Touch. Ich genieße ihn am Liebsten, wenn es draußen stürmt und regnet, schneit und friert. Mit einem heißen Kaffee oder einem guten Tee. Aber das geht ja schließlich auch schon im September. Und Oktober. Und November. Und immerhin habe ich dann im Dezember, wenn die Rezepte ausgepackt und der Teig geknetet wird, genügend Stauraum für jede Menge Plätzchen.

Drum möchte ich meinen Leidensgenossen einen ermutigenden Anstoß und den Gegner einen kleinen Klaps auf die Finger geben. Wer den Lebkuchen erst im Dezember essen möchte, dem sei dies gegönnt. Doch verwehren Sie uns doch bitte nicht, schon früher in den Genuss zu kommen! Denn immerhin gibt es das leckere Schmankerl nicht nur im Supermarkt, sondern auch auf offener Straße. Ich sage nur: Jahrmarkt. Und wenn sich mein lieber Herzbube irgendwann dazu erbarmt, mir ein mit Blumen und Ranken verziertes Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Für meine süße Wutzebacke“ um den Hals zu hängen, dann werde ich bestimmt die Letzte sein die sagt: Bitte nicht, mein Schatz – es ist doch erst September!

 

Guten Hunger!

Ihre Rike

*Für gegenteilige fundierte Angaben bin ich stets offen.

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