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Zwischen Galgenhumor, Verzweiflung, Wut, Solidarität und auf der Suche nach UrsachenGleich dreimal liefen die Keller in Sichenhausen voll

SICHENHAUSEN (cdl). Unfassbarers Pech ereilte einige Bewohner der Ortschaft Sichenhausen am Wochenende. Gleich dreimal innerhalb von eineinhalb Tagen liefen ihre Keller mit Wasser und Schlamm voll. „Das habe ich in 45 Jahren noch nicht erlebt“, stellt ein ältere Dorfbewohner geschockt fest. 

Am Montag danach war die Stimmung weiterhin extrem angespannt. So etwas hatte das 200-Seelen-Dorf noch nie erlebt. Ein heftiger Platzregen führte am Samtagnachmittag zu einer Schlammlawine. Doch damit nicht genug. Bereits am frühen Sonntagabend ging das nächste heftige Gewitter über dem Schottener Ortsteil nieder und nach Angaben der Bewohner, fiel der Niederschlag und die Wassermassen noch heftiger aus als am Vortag.

Augenzeugen berichteten von beiden Tagen wie sie das Unheil auf sich zukommen sahen. Als der Himmel seine Schleusen öffnete, habe sich die in den Ort führende Straße, binnen weniger Minuten zu einem Fluss verwandelt. „Die Schlammlawine hat man bereits kommen sehen, als sich die Erdmassen vom Maisacker oberhalb des Dorfes lösten und auf das Dorf zurollten“, so ein Anwohner.

In den Medien und auch bei Oberhessen-live war kurzfristig zu lesen, dass es am zweiten Tag nicht ganz so heftig gewesen sei, doch das verneinten viele Betroffene vehement. „In 20 Minuten sind 35 bis 50 Millimeter Niederschlag gefallen und viel mehr Wasser in die Keller gelaufen und in etwa die gleiche Menge Schlamm wie am Vortag“, berichteten die betroffenen Anwohner und Feuerwehrleute übereinstimmend. Die Feuerwehr war bis um 1 Uhr in der Nacht zum Montag beschäftigt, das Gröbste zu beseitigen. Aber der Spuk war noch lange nicht vorbei.

Gegen 2 Uhr kam der nächste heftige Gewitterregen. Diesmal gab es zwar keine erneute Schlammlawine, aber die Kanalistation war mit Schlamm verstopft und konnte das Wasser nicht ableiten. Jetzt drückte das Wasser aus der Kanalisation erneut in die Keller,  Anwohner und Feuerwehr waren binnen weniger Stunden das dritte Mal am Wochenende damit beschäftigt, die Keller vom Wasser und Dreck zu befreien. Bis in die frühen Morgenstunden dauerte der Einsatz der völlig entkräfteten und entnervten Einwohner.

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An den Fußabdrücken ist zu erahnen, wie hoch der Schlamm noch an einigen Stellen ist.

Aufräumarbeiten und Bangen gingen am Montag direkt weiter

Am Montagvormittag waren vor den betroffenen Häusern Berge von Sperrmüll aufgetürmt, darunter neben jeder Menge Holzmobilar auch Waschmaschinen und Wäschetrockner. Viel Schlamm war bereits wegschafft worden und nur an einigen Stellen ließ sich das ganze Ausmaß der Katastrophe noch erahnen. Die Feuerwehr und die Bewohner hatten an einigen Stellen provisorische Schutzwälle mit Sandsäcken und Holzboden errichtet. Anstelle des zu erwarteten modrigen Geruchs, roch es schlicht nach Regenwetter an einem nassen Spätfrühlingstag.

Es ging direkt weiter mit Aufräumarbeiten. Die Bürgermeisterin der Stadt Schotten, Susanne Schaab, war mit einem Mitarbeiterstab erschienen, um sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen. Besonders groß war die Verzweiflung vor dem Haus, das auf weiteres unbewohnbar ist. Es flossen viele Tränen. Die Familie wusste nicht, wie es in den nächsten Tagen und Wochen für sie weitergehen soll. Nach eigenen Schätzungen hat sie jetzt für mindestens vier Monate kein Dach mehr über dem Kopf.

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Nicht nur Holzmobilar musste nach der Überflutung entsorgt werden, auch Elektrogeräte wie hier Waschmaschine und Wäschetrockner sind der Überschwemmung zum Opfer gefallen. Foto: cdl

Gleichzeitig wurde in der Runde über das weitere Vorgehen beraten. Der massig entstandene Sperrmüll muss schließlich abtransportiert werden, aber ebenso müssen die Versicherungen den Schaden aufnehmen. Daher wusste niemand so genau, wie der Ablauf in den kommenden Tagen sein wird. Die meisten Betroffenen hatten sich bereits mit ihren Versicherern in Verbindung gesetzt und zeigten sich äußerst skeptisch, ob der Schaden aufgrund vieler Klauseln überhaupt ersetzt wird. Während in kleiner Runde diskutiert wurde, stellte sich bereits erneut ein Gefühl der Ohnmacht ein, denn am Himmel verdunkelten sich die Wolken und es begann erneut heftig zu regnen. Die Sorge war groß, dass die Kanalisation nicht Stand halten könnte. Zumindest heute Vormittag hielt sie dem Dauerregen aber Stand.

Der Stadtverordnetenvorsteher Hans Dieter Hergert befürchtete, dass extreme Wetterlagen in Zukunft häufiger vorkommen könnten und brachte das Schicksal der Einwohner mit dem Klimawandel in Verbindung. Dann machte er sich Luft über die Berichterstattung in den Sozialen Medien: Kommentare von Usern wie „Selbst Schuld, wenn man sein Haus an den Hang baut“, ließen ihm die Zornesröte ins Gesicht steigen. Daraufhin ergänzten einige Bewohner, dass am Sonntag einige Katastrophen-Touristen im Ort gewesen und ungefragt in die Häuser gegangen seien. „Sie haben in den Häusern Aufnahmen gemacht“, die dann in den Sozialen Netzwerken gelandet seien.

Viel Kritik am großflächigen Maisanbau

Das Haus des Ortsvorstehers Otto Heinrich Winter ist ebenfalls eines der betroffenen Häuser. Er selbst war am Vormittag an besagten Straßenzug unterwegs und stand bei Fragen Rede und Antwort. Seine Frau und sein Sohn kümmerten sich ebenfalls um die Nachbarn und berichteten über die aktuelle Lage sowie die Schäden am eigenen Haus und Garten.

Vater und Sohn hatten den Keller – wie viele andere Dorfbewohner auch – dreimal reinigen müssen. Das Gartenhäuschen ist bisher immer noch verschlammt. Die Zierfische im Gartenteich sind mit den Wassermassen aus ihm heraus gespült und viele hundert Meter weiter unten im Dorf im Schlamm gefunden worden. Ob es die Fische überlebt haben wusste man nicht, außer von einem, den ein Anwohner vom Schlamm gereinigt und bei sich in den Teich gesetzt habe. Das Wohl der Fische war aber für alle zunächst einmal zur Nebensache geworden.

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Hier ist der Schlamm noch rund 30 Zentimeter hoch und der Kanal unterspült.

Winter kann sich an kein Unwetter mit änhliche Auswüchsen in Sichenhausen erinnern. Als er ein Kind war, habe es einmal ein Unwetter mit Überschwemmungen gegeben, aber das sei nicht so verheerend ausgefallen und in welchem Jahr das genau war, wisse er nicht mehr. „Vor drei Jahren hat die Schneeschmelze mit gleichzeitigen Regengüssen einige Keller im Dorf unter Wasser gesetzt“ so der Ortsvorsteher. Als eine Ursache hat ein anderer Dorfbewohner den großflächigen Ackerbau mit Mais und das Wegfallen von einigen Gräben ausgemacht. Ein weiterer Dorfbewohner ergänzt, dass auch das Sägewerk – es ist vor fünf Jahren abgebrannt – einiges an Schlamm aufgehalten hätte.

Bei der Feuerwehr ist ähnliches zu hören. Viel Schlamm sei von dem großen Maisacker oberhalb des Dorfes gekommen. Kleinere Äcker, so wie es früher üblich war, mit verschiedenen Pflanzenkulturen und zwischen ihnen Gräben, hätten die Wasser- und Schlammmassen deutlich geringer ausfallen lassen. Gerade der Maisanbau sei auf hiesigen Äckern bei Unwettern ein Problem, weil bei diesem Getreide sich am leichtesten die Erde löse und abrutsche. „In Zukunft muss oberhalb des Dorfes über eine andere Bewirtschaftung diskutiert werden“, heißt es aus Feuerwehrkreisen. Außerdem sollten einige Hausbesitzer, an Stelle eines Gartenzauns über eine Mauer nachdenken, die das jeweilige Haus schützen könnte.

Mit einem verbitterten sarkastischen Unterton sagte ein Feuerwehrmann: „Jetzt haben wir wieder fünf Jahre Ruhe im Dorf.“ Alle fünf Jahre würde etwas passieren. Vor zehn Jahren der schreckliche Suizid und vor fünf Jahren brannte das Sägewerk nieder.

Ein Kuriosum stellten einige Sichenhäusener beim Schlamm schippen fest. Er enthalte viel Lehm und sei nur nass zu schippen. Am Sonntagmittag hätten sie ihn sogar wieder nass gemacht, um ihn einfacher beseitigen zu können. Daher störte sich beim Aufräumen auch kaum einer am Dauerregen und der restliche Schlamm wurde nach und nach aufgeladen und abtransportiert.

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An vielen Stellen wurde noch geschippt und der Schlamm nach und nach abtransportiert.

Große Solidarität unter den Dorfbewohnern

Wenn man aus solch einer Katastrophe überhaupt etwas Positives ziehen kann, dann war es die Hilfsbereitschaft der Dorfbewohner. Vorhandenes Arbeitsgerät und Arbeitskraft wurden zur Verfügung gestellt und kräftig mit angepackt. Am Montagmorgen kam beispielsweise ein frisch zugezogenes junges Pärchen vorbei und fragte, ob sie irgendwo mit anpacken könnten. Sie waren über das Wochenende verreist gewesen und wollten nach ihrer Ankunft direkt mithelfen.

Wichtig war das Eintreffen der Kanalreinigung gegen 11.30 Uhr. Denn die Kanalisation musste schnellst möglich von den Schlammmassen gereinigt werden, damit neues Wasser ablaufen kann und nicht erneut in die Keller gedrückt wird. Neben der anfallenden Sperrmüllbeseitigung denkt die Stadt Schotten momentan über einen Spendenaufruf für die geschädigten Familien nach. Darüber werden wir umgehend informieren, wenn näheres bekannt ist.

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Die Kanalreinigung muss schnell die Rohre wieder frei bekommen.

Ein Gedanke zu “Gleich dreimal liefen die Keller in Sichenhausen voll

  1. Wann kan man mit dem Spendenaufruf rechnen? Hier sollte nicht so viel Zeit ins Land gehen!

    Einen herzlichen Gruß an alle Betroffenen, meine Spende ist euch sichr!
    Erdbeere

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