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Bürgerversammlung in Homberg/Ohm: Landrat erzählt von Erfahrungen – Freitag: 300 weitere Ankömmlinge in Alsfeld und 60 in Homberg erwartetDie Geschichten geben Flüchtlingen Gesichter

HOMBERG/OHM (aep). Das hat Landrat Manfred Görig noch nicht oft erlebt, dass der ganze Saal ihm an den Lippen hängt und dann in Beifall ausbricht – vielleicht nicht mal beim Kreisparteitag der SPD. Aber in diesen Tagen tourt der Vogelsberger Verwaltungschef durch den Kreis, um den Menschen vor Ort zu erklären, wie das kommt, dass plötzlich so viele Flüchtlinge ankommen sollen. Jetzt sind sie da, ist aus Theorie mehr und mehr Praxis geworden – und plötzlich kann der Landrat berichten, wie sie denn so sind, die Fremden, vor denen viele so viel Angst haben. Am Donnerstagabend in Homberg: Da erzählt Görig ausgiebig von Menschen, gibt ihnen Gesichter. Und nebenbei erzählt er: Morgen kommen weitere 300 an – diesmal vor allem in Alsfeld.

Irgendwann in der Nacht von Freitag auf Samstag sollen 360 Flüchtlinge den Vogelsberg erreichen, teilte Landrat Manfred Görig am Donnerstagabend vor knapp 300 Besuchern in der Homberger Stadthalle mit. Zusammen mit dem Stadtverordneten-Vorsteher Armin Klein und Bürgermeister Béla Dören saß er am Podiumstisch, um Rede und Antwort zu stehen. 300 der Ankömmlinge werden in Alsfeld untergebracht, der Rest kommt nach Homberg, wo eine Vielzahl freiwilliger Helfer seit dem vergangenen Freitag in der Sporthalle der Gesamtschule eine Unterkunft für 248 Menschen eingerichtet hat. „Ein dickes Lob an die Einsatzkräfte“, sagte Görig, und auch an der Stelle brandete Beifall auf.

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Der Podiumstisch am Donnerstagabend in Homberg mit Bürgermeister Béla Dören, dem Stadtverordnetenvorsteher Armin Klein und Landrat Manfred Görig.

Waren bislang alle Bürgerversammlungen im Zusammenhang mit dem Flüchtlingszustrom im Vogelsberg schon friedlich und eher vom Willen zur Hilfe als von ängstlichen oder ablehnenden Kommentaren geprägt gewesen, so zeigten sich die Homberger am Donnerstagabend noch entgegenkommender: mit weniger Fragen nach Sicherheit als nach konkreten Hilfeangeboten für die Ankömmlinge. Das mag sogar daran gelegen haben, dass Landrat Görig, dessen Stärke üblicherweise weniger in blumigen Ansprachen zu finden ist, bei den Schilderungen seiner ersten Erfahrungen mit den neuen Flüchtlingen zum Anekdoten-Erzähler wächst – abgesehen davon, dass dem früheren Bundeswehr-Offizier die Rolle des Organisators offenbar liegt.

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Freiwillige Helfer können sich im Familienzentrum melden

Gesucht werden nach wie vor Spenden, aber vor allem auch helfende Hände, erklärten Landrat Görig und Bürgermeister Dören. Die aktuellen Helferinnen und Helfer von mehreren Katastrophenschutz-Organisatoren müssen unterstützt und auch abgelöst werden. Wer helfen möchte, kann sich unter Telefon 06633 / 184–42 im Homberger Familienzentrum melden – per E-Mail auch unter stadt@homberg.de. Die Leiterin Christiane Schneider und Cornelius Klein seien die Ansprechpartner. Aber, so warnte Görig. Man müsse etwas Geduld bis zum Einsatz mitbringen.

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Ansprechbar für freiwillige Helfer: Christiane Schneider und Cornelius Klein vom Familienzentrum.

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Vielleicht lag der Sympathie-Zuwachs  auch einfach an den ersten 292 Flüchtlingen, die am Dienstagabend Lauterbach erreichten: Familien mit nicht weniger als 114 Kindern zum Teil im Säuglingsalter. „Das hat uns enorm unter Druck gesetzt“, berichtet der Landrat. Mit so vielen Kindern habe man nicht gerechnet, und darauf musste die Halle verstärkt auf die kleinen Gäste eingerichtet werden: mit mehr Kinderbetten, mehr Betreuung und schlicht mehr Wärme.

„16 Grad für Kinder: Das ist nichts“, erklärte Görig. Er habe noch mit Mühe eine Kinderärztin aufgetrieben, weil einige Kinder offensichtlich kränkelten. „Das gab gleich große Aufregung!“ Die Kleinen wurden nach Fulda ins Klinikum geschickt, wo sie allerdings nicht aufgenommen wurden. Aber noch bevor er sich richtig aufregen konnte, so erzählt der Landrat und schlägt dabei die Hände vor das Gesicht, habe sich heraus gestellt: Die Kinder hatten nichts, was nicht auch in Lauterbach vom Allgemeinarzt behandelt werden könnte – einfach Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Alle waren aufgeregt: „Die Eltern natürlich auch!“

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Geschichten aus der Praxis der Flüchtlingsunterkünfte: Landrat Görig (oben) und Bürgermeister Dören in der Stadthalle.

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Eine menschliche Seite von Alltag, die jeder nachvollziehen konnte – auch, was Görig gleich dazu erzählte: wie die Flüchtlinge, kaum, dass sie einquartiert waren, sich in Lauterbach gruppenweise auf die Suche nach Handy-Karten begaben. „Die Verkäufer hatten bei Euronics einige Probleme.“ Hörbares Schmunzeln im Saal. Diese Handy-Karten sind für Flüchtlinge sehr wichtig, und sie haben auch das Geld, um sie zu kaufen, erklärte er: „Man hat es mit Menschen zu tun, die genau wie wir nach ihren Familien suchen.“ Das sei auch der Grund, warum viele noch ihnen auch gleich weiterreisen. Das dürfen sie sogar, so wie sie auch ständig das Lager verlassen können: „Wir haben kein Gefängnis gebaut.“

Und ja, im Alltag gebe es auch das eine oder andere Problem. Das sei ja auch nicht verwunderlich, meint Görig: Die Leute kämen mit einem ganz anderen Hintergrund, mit Kriegsefahrungen und einer anderen Mentalität nach Deutschland – da müsse es erst einmal auch Reibereien geben, wenn se so eng zusammen leben müssen. „Stellen Sie sich vor, wir alle hier in der Halle sollen jetzt einen Monat zusammen bleiben.“

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Fragen aus dem Publikum: Meist ging es um Organisatorisches, hier bei Hartmut Kraus (oben) und Ortsvorsteher Jochen Köhler, es kamen nur wenige Fragen nach Sicherheitsproblemen.

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„Da wo ich bin, da geht die Post ab!“

Da wachsen Kleinigkeiten schon mal zu größeren Problemen an, sagt Görig und erzählt von menschlichen Kleinigkeiten: dass entgegen dem Verbot doch Essen zu den Schlafplätzen mitgenommen wird, zum Beispiel . „Die Menschen machen nicht immer, was sie sollen. Das ist bei denen nicht anders als bei uns.“ Es werde aber darauf recht streng geachtet, dass Regeln eingehalten werden – wenn es auch schwerer fällt als mancher Zeitgenosse sich vorstellen könne. Er bekomme ja jeden Tag 500 neue Vorschläge, wie Probleme zu vermeiden seien, sagt er in Anspielung auf die Idee der Handzettel, von denen nicht klar sei, in wie vielen Sprachen sie produziert werden müssten. „Heute kam die Idee auf: Wir brauchen eine Hausordnung. Jo!“, schnauft der Landrat: „Ich hänge da die vierseitige Hygieneverordnung hin!“Gelächter im Saal. Was mehr helfe, habe sich schon bewährt: die Umgehung der einen oder anderen üblichen Vorschrift, um Abläufe zu vereinfachen. „Es ist leicht, in der Talkshow zu sagen, wie es geht“, fasste er zusammen: „Aber da wo ich bin, da geht die Post ab!“ Lauter Beifall in der Homberger Stadthalle.

Ob es denn schon Ideen zur Kinder-Betreuung außerhalb der Unterkünfte gebe, lautete dann eine Frage aus dem Publikum. Antwort: Für solche Planungen sei es noch zu früh. Eine andere Frage: ob denn angesichts der möglicherweise langen Aufenthaltsdauer der Flüchtlinge feste Unterkünfte gebaut werden sollten. Antwort. Dafür sei zumindest derzeit alles noch zu unsicher. Dann eine Frage nach Sauberkeit und Sicherheit, gestellt von einer Anwohnerin: „Da gibt es Riesenprobleme!“ Landrat Görig hingegen befand: „Das ist eine hypothetische Frage.“ Bislang habe man doch noch gar keine Erfahrungen gesammelt. Es gebe eine Security – die sich in der Nachbarschaft der Sporthalle erst einmal vorstellte, um den Leuten Angst zu nehmen, erklärte Bürgermeister Béla Dören.  Das größere Sicherheitsproblem, so stellte Görig klar, sehe er bei den Unterkünften von außen nach innen.

Und er erzählt von einer neuen Art, die mitunter erschöpften Helfer zu motivieren, die ja sämtlich ehrenamtlich dabei sind und irgendwann auch abgelöst werden müssten. Wenn die also mal wieder von seinen Anweisungen genervt seien, dann müssen sie in Lauterbach nur in die Halle schauen, wo die Kinder sich schnell eingelebt hätten: „Die sind ja viel lockerer. Die Kinder spielen miteinander, und das ist ein Lohn für die Helfer.“

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