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Der schönste und traditionellste Brauch in AlsfeldDas Christkindwiegen soll von 1674 sein – aber ist es sogar noch älter?

ALSFELD (-) Für viele Alsfelder fängt Heiligabend erst an, wenn sie das Christkindwiegen auf dem Marktplatz erlebt haben – mit Hunderten Besuchern den Sängern und Bläsern von Liederkranz Harmonie dem Turm der Walpurgiskirche gelauscht haben. Seit 1674 soll es das Ritual geben. Ist dieser Brauch noch älter? Liegt die Herkunft des „Kindelwiegens“ im Weihnachtsspiel von 1517? Der Historiker Michael Rudolf ist dem nachgegangen.

Weihnachten ist in Alsfeld seit Jahrhunderten mit einer ganz besonderen Tradition verbunden, wenn an Heilig Abend vom Turm der Walpurgiskirche das „Christkind gewiegt“ wird. Ein eigenartig anmutendes Bild biete sich dabei hoch droben auf dem Turm, wenn sich Sänger und Musikanten dreimal stündlich am Turmumgang mit den vielen Lichtern neben den strahlenden Christbäumen zeigen und jeweils drei Lieder beziehungsweise Weihnachtschoräle von den drei Seiten des Turmes in die Christnacht hinaus erklingen lassen. So steht es in einem Artikel der Oberhessischen Zeitung an Heilig Abend des Jahres 1903.

Frühe Schilderungen des Brauchs

„Auf dem Turm steht eine goldene Wiege. Darin liegt das Christkind. Die Männer hoch oben stehen mit bunten Laternen um die Wiege herum, singen und wiegen das Christkind zum Schlafe ein“, schreibt Hermann Bender 1956 in seinem Beitrag über das Alsfelder Christkindwiegen in den Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins (M. GAVA 9. R., 1967, Nr. 9, S. 73 ff.).

Das Christkindwiegen, 1674 erstmals bezeugt, ist ohne Zweifel eine alte und schöne Sitte. Ludwig Prautzsch konnte aufgrund seiner Studien in den Akten des Alsfelder Stadtarchivs und weiteren Stellen ein wenig „Licht in die Frage“ bringen, wie alt das so genannte „Christkindwiegen“ ist.

Rechnungen im 16. Jahrhundert

Nachdem sich bereits Ende des 16. Jahrhunderts Ausgaben in den Rechnungen für regelmäßige Kirchenmusiken finden, insbesondere für Schulmeister und Schüler der Lateinschule sowie auch für Türmer und Musikanten beziehungsweise die Gelder für den „Singwein als Lohn“ für die Akteure vermerkt sind, „taucht im Jahre 1674 erstmalig das Christkindwiegen vom Turm der Walpurgiskirche in den Alsfelder Oberkastenrechnungen“ auf, was sich im Laufe der Jahre fortsetzt (L. Prautzsch, in: M. GAVA 11. R., 1967, Nr. 1, S. 10 ff.). Prautzsch schließt daraus, dass sich der „Conrector“ der Alsfelder Lateinschule und „Director musices“, Heinrich Leußler, 1674 zum ersten Mal mit Sängern und Musikanten auf den Turm der Walpurgiskirche begeben hat, „um das Christkind zu wiegen und zu loben“. Die noch heute das Brauchtum erhellenden Lichter, welche die visuelle Eindrücklichkeit der Zeremonie verschönern, in ihrer Wirkung verstärken und eine magische Atmosphäre evozieren, seien einst als pure Notwendigkeit für das Notenlesen in der dunklen Nacht mitgeführt worden, wobei sie bis heute als eindrückliche Attribute das Besondere dieser Alsfelder Christnacht unterstreichen.

Auf dem Marktplatz verfolgen Hunderte Menschen das Christkindwiegen oben auf dem Turm der Walpurgiskirche. Foto: Archiv/aep

Eine Verbindung von Musik und Wiege-Akt

Wird der Brauch des Musizierens von Stadt- und Kirchtürmen an Heilig Abend in manchen Orten Deutschlands praktiziert, so dürfte sich in Alsfeld eine außerordentliche Form in der Verbindung von Musik und eigentlichem Wiege-Akt des Christkindes hoch droben auf dem Turm herausgebildet haben. Die Herkunft könnte sich über die liturgische Feier des Hochfestes aus dem Alsfelder Weihnachtsspiel selbst ableiten, wie wir es in der überlieferten Fassung von 1517 kennen. Ludwig Prautzsch weist 1967 in seinem oben genannten Beitrag darauf hin, und der Verfasser dieser Zeilen tat das unabhängig von Prautzsch 1999 (Sonderseite der Alsfelder Oberhessischen Zeitung v. 17. Dezember 1999), dass der Brauch viel älter sein muss und stellt den Zusammenhang des Christkindwiegens in den Gottesdiensten des 14. und 15. Jahrhunderts heraus, wobei er sich auf die Wiege am Altar mit dem Singen von Weihnachtsliedern bezieht sowie auf das Vorhandensein des „Kindelwiegens“ im „Hessischen oder Alsfelder Weihnachtsspiel“ verweist. Ein lohnenswerter Ansatz, wird versucht, den Ursprung des Christkindwiegens auf dem Turm der Walpurgiskirche bis in die Gegenwart zu klären. Das Alsfelder Christkindwiegen vom Kirchturm, so die These in den nachfolgenden Zeilen, nimmt seine Herkunft aus den liturgischen Feiern und in Alsfeld überdies aus dem ortseigenen „Hessischen oder Alsfelder Weihnachtsspiel“, von dem eine Aufführung 1517 und die in der Murhardschen Bibliothek aufbewahrte Handschrift des Spiels bekannt ist.

Das „Kindelwiegen“  als Quelle des „Christkindwiegens“? 

Das Alsfelder Weihnachtsspiel von 1517 umfasst das Weihnachtsgeschehen von der Verkündigung bis zur Flucht nach Ägypten. Im Mittelpunkt des Spiels steht das „Kindelwiegen“, wie es durch die Franziskaner als ein Stück volkstümlicher Liturgie in den weihnachtlichen Gottesdienst eingeführt worden sei, wobei es sich um eine Szene handelt, bei der unter geistlichen Gesängen das Christkind in seiner Wiege gewiegt wird. 

In der Szene des Alsfelder Weihnachtsspiels (vgl. Handschrift des Hessischen oder Alsfelder Weinachtspiels 1517, Murhardsche Bibliothek Kassel) wird zum Wiegen des Kindes in lateinischen Cantiones und deutschen Liedern gesungen. Wenn auch die Noten fehlen und die Texte nur die beginnenden Strophen der Lieder erkennen lassen, können insgesamt zehn Lieder nachgewiesen werden. Der vielleicht wichtigste der Gesänge ist das deutsche Resonet mit den bekannten Wiegestrophen „Joseph, lieber newe myn“, das spätere „Joseph, lieber Joseph mein“. Charakteristisch für das Alsfelder Weihnachtsspiel ist es, dass das Kindelwiegen in der Mitte des Ganzen steht, nicht nur zeitlich, sondern auch nach der Bedeutung. Der eigentliche Höhepunkt, die Geburt, war nicht darzustellen, und so ist das Wiegen des Kindes das einzige, was den Zuschauern vor Augen geführt werden konnte. Die Szenerie der Herbergssuche wird im Alsfelder Spiel durch Josephs Absicht beschlossen, die Wiege zu holen, was das geistliche Schauspiel als Kindelwiegenspiel erkennen lässt.

Joseph bringt die Wiege

Es ist Joseph, der die Wiege bringt und, wie es aus der Handschrift des Spiels von 1517 zu erkennen ist, sagt: „Maria, ich habe mich wol bedacht und habe dir eyn wiege brocht, dar in sal lign daß kindelin, daß wir an sorgen syn!“ Unmittelbar danach singt Maria die wohl bekanntesten Strophen, was wir als Weihnachtslied „Joseph, lieber Joseph mein“ kennen: „Joseph, lieber newe myn, hilff mir wiegen daß kindelin, daß got dyn loener muße syn in dem himmelrich, der meyde sone Maria!“ Dem vorausgehenden Lob Gottes als indirekte Begrüßung durch die Engel folgt im Spiel von 1517 nun die der irdischen Eltern im Kindelwiegen, wozu das deutsche Resonet „Joseph, lieber newe myn“ erklingt, das noch zweimal auftaucht. Maria fordert Joseph auf, die Wiege in die Hand zu nehmen und das Kind „säuberlich“ zu wiegen, dass es ja nicht schreie. Danach tritt ein Knecht auf, der mit Joseph zu dem Liede „In dulci iubilo“ mit süßem Lob um die Wiege tanzt, worauf die Engel singen.

„Eya, eya! Virgo deum genuit“

Das Spiel von 1517 hält eine Besonderheit bereit, den sprechenden und singenden Jesusknaben, der mit seinem „Eya, eya! Virgo deum genuit“ die Geburt durch die Jungfrau unterstreicht. Es folgen weitere Gesänge, die Wiederholung des Kindelwiegens, und nach einem Zwiegespräch zwischen Maria und Joseph tanzt dieser mit dem Knecht sowie dem Kind zu dem Lied „En trinitatis speculum“, dem „Spiegel der Dreifaltigkeit“. Mit der dritten Wiederholung des Kindelwiegens, einigen Worten des Jesuskindes und Marias sowie den Gesängen der Engel endet die Kindelwiegenszene des Alsfelder Weihnachtsspiels (vgl. u.a. Luise Berthold, Die Kindelwiegenspiele, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Halle/Saale 1932; Konrad Ameln, „Resonet in laudibus“, Joseph, lieber Joseph mein, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 15 ,1970, S. 52 – 112).

Ein einzigartiges Brauchtum 

Unbestritten ist der Zusammenhang zwischen dem Alsfelder Christkindwiegen zur eigentlichen Liturgie um das Kindelwiegen in der Kirche, das seinerseits im Alsfelder Weihnachtsspiel eine Erweiterung erfahren hat. Folglich lässt sich der Brauch des Christkindwiegens sowohl aus der liturgischen Feier des kirchlichen Hochfestes als auch aus dem Weihnachtsspiel herleiten, was allein die Namensgleichheit des Kindelwiegens in Spiel und Brauch verrät. Zudem sind Liturgie und Weihnachtsspiel nachweislich älter als der Brauch des Wiegens vom Turm. Karl Dotter (1878 – 1940), Lehrer und Stadtarchivar, hat die Art und Weise des Christkindwiegens vom Turm in Alsfeld als einzigartig bezeichnet, wobei dafür die Existenz eines Weihnachtsspiels in der Stadt herangeführt werden könnte. Und wenn Hermann Bender in seinem Aufsatz vermutet, dass das Praktizieren des Christkindwiegens vom Turm zwar erst 1674 nachgewiesen wird, aber bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts stattgefunden haben könnte, so würde dies aus der Liturgie und der lebendigen Kenntnis des Weihnachtsspiels zu erklären sein. Es ist davon auszugehen, dass das Spiel nach der Einführung der Reformation 1526/27 in Alsfeld nicht mehr zur öffentlichen Aufführung kam, die Kernszene des Kindelwiegens jedoch als wichtiger Bestandteil des Geburtsfestes Christi erkannt wurde. Vielfach sind von den Weihnachtsspielen nach der Reformation nur die von den Versen gelösten Gesänge erhalten, die als Turmmusiken lebendig blieben, was auch für das Christkindwiegen in Alsfeld heranzuziehen ist. 

Der Brauch: drei Lieder von drei Kirchturmseiten

Beim Christkindwiegen erklingen, wie eingangs erwähnt, dreimal stündlich von den drei Turmseiten drei Lieder, mit denen das „Kind in den Schlaf gewiegt“ wird, was unverkennbar auf die Dreifaltigkeit hinweist. Auffällig ist, dass beim eigentlichen Wiege-Akt des Alsfelder Weihnachtsspiels mehrmals das Lied „En trinitatis speculum“, der „Spiegel der Dreifaltigkeit“ gesungen wird, der die Dreizahl erklärt und das Kindelwiegen im Spiel noch zweimal wiederholt wird, was mit den noch aktuellen drei Turm-Auftritten des Alsfelder Christkindwiegens übereinstimmt. Zudem erklingt im Spiel von 1517 und in der liturgischen Handlung mehrfach der Lobpreis auf Maria, was den Ort der Hauptkirche erklärt, die neben der heiligen Walpurga Maria als Schutzheilige aufweist. 

Schönster und traditionellster Brauch in Alsfeld

Lässt sich über die Herkunft und die Quelle des Alsfelder Christkindwiegens vom Turm sicherlich kontrovers diskutieren, dürfte doch unbestritten sein, dass sich auch in diesem Jahr an Heilig Abend die Turmstube und der Marktplatz der Stadt wieder füllen werden, um dem Christkindwiegen beizuwohnen, dem schönsten und traditionellsten Brauch in Alsfeld, den schon der Alsfelder Kunstmaler Karli Weitzel mit seinem unvergessenen Ölgemälde verewigt hat und beispielsweise die am Marktplatz der Stadt wohnende und vor einhundert Jahren verstorbene Schriftstellerin Frieda Bücking (1853 – 1925) in ihren Verszeilen vortrefflich auszudrücken weiß.

Verse der Schriftstellerin Frieda Bücking

„Der Himmel spannt den dunklen Bogen

In feierlicher Abendruh

Um Stadt und Feld und stille Wälder,

Weich deckt der Schnee die Fluren zu.

In Weihnachtsfrieden eingebettet

Liegt unser Nest so eng und traut,

Und bange meine Kinderseele

Dem hohen Fest entgegenschaut.

Noch ragt der Turm im Sternenschimmer

Dunkel und schweigend in die Nacht.

Ich blicke andachtsvoll zur Höhe,

Wo einsam sonst der Türmer wacht.

Nun glühen Lichter auf dort droben

Und sanfter, bunter Lampenschein.

Mit weihevollen Liederchören

Da wiegen sie das Christkindlein.

Posaunenklänge schallen nieder

Zu Gottes und zu Jesu Ehr,

Und feierlich ertönts im Chore:

Vom Himmel hoch, da komm` ich her.

Da blitzt im ärmsten kleinen Hause

Das Lichtchen an der Tanne auf,

Und mit mir schauen hundert Augen

In sel`gem Staunen dort hinauf.

(Zit. nach: Frieda Bücking, Aufsätze und Briefe, Aus dem Leben einer kleinen Stadt, München 1926, Privatdruck hrsg. v. Richard Uhde, S. 78)

von Michael Rudolf

 

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Das Video vom Turm

Oberhessen-live hat den Brauch im Turm der Walpurgiskirche verfolgt und 2015 in einem Video beschrieben.

Die Zeiten für das Singen laut dem Verein Alsfelder Christkindwiegen:

16:55 Uhr spätestes Eintreffen der Mitwirkenden

17:15 Uhr erstes Singen

18:00 Uhr zweites Singen

19:00 Uhr drittes Singen

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