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Mathematiker Albrecht Beutelspacher begeistert bei den Alsfelder Kulturtagen mit Mathematik zum AnfassenWenn Vierecke Schokolade mögen und Sechsecke Tankstellen retten

ALSFELD (ol). Im Rahmen der Alsfelder Kulturtage präsentierte Albrecht Beutelspacher, Gründer und Leiter des Gießener Mathematikums, einen außergewöhnlichen Vortrag in der Aula der Stadtschule. Rund 70 Besucherinnen und Besucher erlebten Mathematik bildhaft, humorvoll und interaktiv – von Vierecken und Fünfecken bis hin zu Sechsecken und Bienenwaben. Mit Papierfalten, Geschichten und anschaulichen Beispielen zeigte Beutelspacher, dass Mathematik weit mehr ist als Zahlen und Formeln: Sie ist lebendig, überraschend und mitten im Alltag zu finden.

Mathematik, das ist das Fach mit Zahlen, Formeln und Pythagoras – für viele ein Albtraum. Doch wer am vergangenen Mittwochabend in die Aula der Stadtschule kam, erlebte eine andere Seite: bunt, bildhaft, zum Lachen, Staunen und Mitfalten. Rund 70 Besucher – darunter auch 13-Jährige Mathe-Cracks und der ein oder andere Lehrer – waren gekommen, um im Rahmen der Alsfelder Kulturtage mit Vierecken, Fünfecken und Sechsecken auf Tuchfühlung zu gehen. Sie ließen sich von Albrecht Beutelspacher, dem Gründer und Leiter des Gießener Mathematikums, auf eine spannende Reise nehmen, um am Ende den Heimweg mit gefalteten Papiersternen, mathematischen Aha-Erlebnissen und Take-Home-Botschaften anzutreten, so heißt es in der Pressemitteilung der Alsfelder Kulturtage.

„Mathematik ist viel mehr als Zahlen – Figuren und Formen sind viel unmittelbarer…“ – so wählte der erfahrene Didaktiker seinen Einstieg. Schnell wurde klar: Er hatte nicht zu viel versprochen. Wo andere mit Zahlenkolonnen langweilen, faltete er Papier, erzählte Geschichten und brachte sein Publikum zum Staunen, Lachen und Mitmachen.

Im Laufe des Abends warf Beutelspacher zwar ganz nonchalant mit großen Begriffen um sich – quadrieren, rationale und irrationale Zahlen, Pythagoras, Euklid. Doch niemand ging verloren. Anhand der unscheinbaren Diagonale eines Quadrats demonstrierte er, wie die Mathematik zu tiefen Erkenntnissen gelangt. Denn die Länge dieser Diagonale lässt sich nicht als Bruch darstellen – sie ist eine irrationale Zahl. Ein „Geheimnis im Innersten des Quadrats“, wie er schmunzelnd erklärte.

Überhaupt das Quadrat. Vierecke, so Beutelspacher, „mögen sich“. Sie haben eine Patchwork-Eigenschaft: Sie schließen sich gerne zu Mustern zusammen. Beispiele? Rittersport-Schokolade, After Eight, Schachbretter, Badezimmerfliesen oder Bierdeckel. „Das Quadrat ist menschengemacht, wir verstehen es gut“, sagte der Mathematiker, und zeigte, wie sich ganze Ebenen lückenlos mit ihnen abdecken lassen – wenn man sie nur genug „aufpumpt“, wie beispielsweise beim Koordinatensystem, das die Welt „aufteilt“. Seine Take-Home-Botschaft: Vierecke sind nicht nur Quadrate – aber Quadrate sind unsere liebsten.

Dann wechselte er zum Fünfeck, „der Zahl der Natur“. Tatsächlich: 73 Prozent aller Blütenpflanzen sind fünfzählig, von der Apfelblüte bis zur Akelei. Auf der Leinwand leuchteten Pentagone, Sternmuster und Autofelgen, Flaggen mit Sternen, ja sogar das Pentagon in Washington. Und Beutelspacher erzählte vergnügt die Geschichte von Betsy Ross, die 1776 George Washington mit einem einfachen „Fold-and-cut“-Trick überzeugte, fünfzackige Sterne in die amerikanische Flagge zu setzen: ein Blatt falten, ein Schnitt – fertig. Das Publikum staunte, und es klappte tatsächlich. Mathematik mit Schere, Humor und ein bisschen Magie.

Fünfecke, so erklärte er, sind eigensinniger als Quadrate. Sie parkettieren nicht gerne, sie bleiben Einzelgänger. Doch ihre Diagonalen bilden Sterne, und in jedem Pentagramm steckt ein weiteres Fünfeck. Johannes Kepler habe sich zeitlebens an diesen Strukturen berauscht, erzählte Beutelspacher. Seine Take-Home-Message hier: Das Fünfeck ist die Naturform, geheimnisvoll, schön und voller Überraschungen.

Im dritten Teil betrat das Sechseck die Bühne – halb Natur, halb menschengemacht. „Der große Bruder des Dreiecks“ mit dem magischen 120-Grad-Winkel. Süßigkeitenverpackungen, Inbusschrauben, Seifenblasen, Bienenwaben, Tankstellenpflaster: überall Sechsecke. Und dann wurde es interaktiv. Auf sein Zeichen hin begann es in der Aula zu knistern, rascheln, seufzen: Die Besucher falteten Sechsecke. „Ein Opfer für die Wissenschaft“, scherzte er, als er die Gäste aufforderte, ihre Fingerspitzen gegeneinanderzupressen – schmerzhaft, aber mathematisch erhellend.

Besonders plastisch erklärte er die Bienenwabe. Eine einzelne Biene sei nicht klug, meinte er, doch als Bau- und Heizbienen im Team formten sie perfekte Sechsecke. Das Geheimnis: Hitze, die die Wachstrichter zusammenschmelzen lässt – wie ein Duschvorhang, der plötzlich am Körper klebt. So entsteht aus vielen kleinen Trichtern ein stabiles Netzwerk. Und warum Tankstellen gerne mit Sechseckpflaster belegt sind? Weil sie den Brems- und Anfahrkräften besser standhalten. Mathematik mitten im Alltag.

Fast beiläufig streifte Beutelspacher noch den Fußball – ein Oktaeder aus schwarzen Fünfecken und weißen Sechsecken, schwer zu zeichnen, aber wunderbar rund. Und so wie der Ball, so war auch der Abend: rund, lebendig, zum Anfassen.

Übrigens: Honorar nahm der Mathematiker keines. Die Spenden gehen direkt an das Gießener Mathematikum. Und vielleicht, so verriet er schmunzelnd im Vorgespräch, kommt der Funke der Mathematik gerade auch bei seinen vier Enkeln an – die er derzeit in Deutschland am Küchentisch unterrichtet, mit Papier, Schokolade und Alltagsdingen. So, wie er es in Alsfeld getan hat.

Take-Home-Message: Mathematik kann faszinierend, anschaulich, ja sogar richtig unterhaltsam sein – wenn man sie mit einem Beutelspacher erlebt.

Die Alsfelder Kulturtage bieten bis zum 21. September ein vielfältiges Programm – von Musik über Lesungen und Ausstellungen bis hin zu Theater und Kabarett. Aktuelle Informationen sowie kurzfristige Programmänderungen sind auf der Website des Vereins zu finden: https://www.alsfelder-kulturtage.de/event/.

Fotos: Kierblewski

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