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Geschichte zu Silvester: Ein Brauch ist in Alsfeld verschwundenVon Riten und Bräuchen zu Neujahr und Erinnerungen einer Zeitzeugin ans neue Jahr

ALSFELD (-) Zum Jahreswechsel sprechen sich die Menschen seit Jahrhunderten Gesundheits-, Glücks- und Segenswünsche aus. Aus Überzeugung, dass es so, wie es am ersten Tag des Jahres ist, auch an allen kommenden sein wird, was eine Reihe von Bräuchen hervorgebracht hat. Einige hat der Alsfelder Historiker Michael Rudolf ermittelt. Die Zeitzeugin Waltraut Enderlein erzählt von besonderen Bräuchen.

Alte Orakelsprüche oder Orakelgesten wie das Bleigießen, das Schuhwerfen, das Hochzeitsorakel, das Überreichen des Glücksschweins aus Teig oder Marzipan, des Klees oder Hufeisens sowie der tiefere Griff in das Schatzkästchen der guten Wünsche charakterisieren seit alters her Silvester beziehungsweise Neujahr.

Vielfältige Neujahrswünsche 

Neben diesen Bräuchen spielen Neujahrswünsche eine große Rolle, die bereits in den höfischen Kreisen seit dem Mittelalter kursierten, die in Briefform, Holzschnitten und Kupferdruckplatten auftauchten oder in Ausschneidebögen, Grußzeilen, Gedichten in überregionalen und regionalen Zeitungen sowie in Klapp- oder Postkarten den liebevoll zum guten Start ins neue Jahr Bedachten gesendet wurden (vgl. M. Rudolf, Wie das neue Jahr begrüßt wurde, in: OZ v. 6. Januar 1999).

Der Nachtwächter als Bote des neuen Jahres

Vor vielen Jahrzehnten war es der Nachtwächter, der um Mitternacht durch die Straßen des Ortes zog und mit seinem Horn die Ankunft des neuen Jahres verkündete, wobei geselliger Tanz und lustige Unterhaltungen jäh unterbrochen beziehungsweise unterbunden wurden. Wer noch konnte, sprang schnell von einem Tisch oder über einen Stuhl ins neue Jahr, was noch weit in unsere Gegenwart als Brauch fortlebte und worüber mir Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Verbindung mit einem Lächeln und der Erinnerung an glückliche Ereignisse berichtet haben. Das „Hornstoßen“ des Nachtwächters, das Essen von Neujahrsbrezeln, das Neujahrssingen oder das Choralblasen vom Kirchturm sind vielfach als erinnerungswürdige Bräuche erhalten geblieben, so wie es am letzten Tag des Jahres die Tradition des Silvesterwürfelns in Alsfeld gibt, an dem Jung und Alt – gemeinsam um einen Tisch sitzend – um die höchste oder die niedrigste Augenzahl würfeln, wobei einer der Spieler nach altem Herkommen ein „Neujahrsgebäck“ gewinnen kann.

Auch das gab es einst: besondere Neujahrspostkarten aus Alsfeld.

Das „Neujahrsanblasen“ – ein in Alsfeld vergessenes Musizieren

Ein Neujahrsbrauch ist heute in Alsfeld in Vergessenheit geraten, das „Neujahrsanblasen“, das im Süden und im Südwesten Deutschlands beziehungsweise in einigen Alpenländern noch immer gepflegt wird. In vielen Städten war es üblich geworden, dass Trompeter, Pfeifer oder Bettelmusikanten das „neue Jahr anbliesen“. Ein schöner Brauch, der in Alsfeld bestimmt aufleben könnte. Der Türmer oder Stadtmusikus praktizierte das Neujahrsanblasen vor Ort, wobei diese Art des Musizierens, wie es Lehrer und Stadtarchivar Karl Dotter (1878 – 1940) aufgrund seiner Studien zur städtischen Musik belegen konnte, in Alsfeld bis 1835 stattfand. Das Neujahrsanblasen entstammte den privaten Nebendiensten des Turmmannes, der alljährlich, nachdem er das neue Jahr an einer beliebigen Straßenecke musikalisch begrüßt hatte, von Haus zu Haus ging und vielleicht mit den goethischen Versen „Ich wünsche euch aus Herzensgrund ein gutes neues Jahr zur Stund`“ dieses begrüßte und den Menschen Glück, Gesundheit und viel Freude für das Kommende zusprach. Natürlich tat er dies aus vollem Herzen, war jedoch stets erfreut, wenn ihm die Hausbewohner ein Geld- oder Sachgeschenk zukommen ließen.

Waltraut Enderlein und das Brauchtum aus dem Sudentenland

Auf der Suche nach weiterem Brauchtum an Neujahr war für mich als Autor dieser Zeilen ein Gespräch mit Waltraut Enderlein, die in Neuberg bei Asch im Sudentenland geboren ist und die bereits als tatkräftige Unterstützerin am Buchprojekt „Flucht und Vertreibung in den Alsfelder Raum“ mitwirkte, ein Gespräch über Riten und Bräuche an Neujahr äußerst spannend und für das Überlieferte sehr erhellend, als ich sie fragte, wie man in ihrer alten Heimat das Neujahr beging und was vom Brauchtum nach der Vertreibung 1946 und der Ansiedlung in Alsfeld bis heute erhalten geblieben ist.

Mistelzweige gegen böse Geister

In der Silvesternacht seien „Mistelzweige über die Eingangstür des Wohnhauses gehängt worden“, so Waltraut Enderlein, welche die „bösen Geister“ abhalten und vertreiben sollten, um den Familienmitgliedern nicht zu schaden. Dieser Gestus erinnert an das „Apotropaion“, einen Abwehrzauber, den wir durch das Tragen von Amuletten, ähnlichen Gegenständen oder das Praktizieren diverser Handlungen kennen sowie dieses in figürlichen Schnitzereien am Fachwerk mancher Alsfelder Häuser in der Altstadt zu finden ist. Am Neujahrstag habe es, wie an Weihnachten, ein besonderes Essen gegeben, was „Geldsegen und Glück“ symbolisiere. Waltraut Enderlein zählt mit einem Schmunzeln die Bestandteile dieses „warmen Menüs“ auf. Der erste Gang bestand aus einer „Grießsuppe, da Grieß für den Millionenbetrag an Geld mit seinen kleinen Körnern zuständig ist“, so die Zeitzeugin. Des Weiteren gab es „Erbsen und Graupen“, was den Glauben unterstreicht, dass diese für das „Rollen des Geldes und gleichzeitig für das Quellende, also das Vermehrende, zuständig“ gewesen sind. „Sauerkraut“ durfte nicht fehlen, symbolisierte es die Silberfäden, also das Silber, versichert die Zeitzeugin nachdrücklich und fährt fort, dass es sodann „Schweinefleisch“ gegeben habe, weil das Schwein, eigentlich der Eber, seit Jahrhunderten als Symbol des Glücks gilt. All das Aufgezählte sollte das Geld und das Glück nicht ausgehen lassen, was für das neue Jahr, natürlich neben der Gesundheit, erhofft wurde.

Gestärkt und kraftvoll ins neue Jahr

Am „Hoh-Neujahr“, also am 6. Januar, setzt die Zeitzeugin fort, „kamen Kinder aus der Nachbarschaft zu meinen Großeltern und wünschten ihnen Glück und Segen für das kommende Jahr mit den Worten: Wir wünschen ein gutes neues Jahr, viel schöner als das alte war, Gesundheit und ein langes Leben möge Gott euch geben“. Ein „Extra-Wunsch“ war nie ausgeblieben: „Und der Frau Marack (Waltraut Enderleins Großmutter) ´ne neue Schürze!“ Meine Zeitzeugin erinnert sich gerne daran, dass „die Kinder natürlich stets dafür gut belohnt worden sind, und das Funkeln in ihren Augen verriet, dass dies zu ihrer Freude“ geschah. Am Abend des 6. Januar, dem heiligen Dreikönigstag, gab es noch ein besonderes Getränk, die so genannte „Stärke“. Das „Stärke-Trinken“ bedeutete, dass man „gestärkt war für alles, was das neue Jahr an Herausforderungen brachte“. Waltraut Enderlein versichert, dass das oben genannte Essen und das „Stärke-Trinken“ noch heute in ihrer Familie – so gut es geht – als ein aus dem Sudetenland mitgebrachtes Brauchtum gepflegt wird. „Senf-Eier“ durften an Neujahr ebenfalls nicht fehlen, wobei mir meine Zeitzeugin die Rezepte für das Weihnachts- und Neujahrsbrauchtum auf das Genaueste erzählt und notiert hat, wofür ich ihr sehr dankbar bin, ist es doch ein wichtiges Kulturgut, das es zu bewahren gilt.

Aber vielleicht kommen wir alle in den Genuss dieser gepflegten Tradition und noch einiger Schmankerln aus der böhmischen Küche und Backstube mehr, wenn im Frühsommer 2026 in Alsfeld zu einer Veranstaltung geladen wird, die sich dem Thema Flucht, Vertreibung, Brauchtum und Aussöhnung widmen wird.

von Michael Rudolf

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