
Märchenprojekt im Haus Stephanus eröffnet neue Zugänge zu Erinnerung, Nähe und SelbstwirksamkeitWenn Zuckerguss Erinnerungen löst
ALSFELD (ol). Im Haus Stephanus verbindet ein gefördertes Märchenprojekt handwerkliche Arbeit, Erzählkunst und gemeinsames Singen. Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz, Behinderung oder in palliativer Begleitung erleben dabei neue Zugänge zu Erinnerungen und Gemeinschaft. Am Beispiel des Märchens „Hänsel und Gretel“ zeigt sich, wie sinnliche Erfahrungen Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen. Das Projekt ist Teil des Landesprogramms „Altenheim: Mitten im Leben“.
Im Haus Stephanus zeigt ein gefördertes Märchenprojekt, wie alte Menschen mit Demenz, Behinderung und in palliativer Versorgung durch Lebkuchenhandwerk, Erzählkunst und gemeinsames Singen neue Zugänge zu Erinnerung, Nähe und Selbstwirksamkeit finden, das berichtet die Einrichtung in einer Pressemitteilung.
Wenn im Haus Stephanus der Duft von Zuckerguss und warmem Gebäck durch die Flure zieht, beginnt mehr als ein vorweihnachtlicher Nachmittag. Es ist ein Stück gelebter Teilhabe: Das Projekt „Märchen erleben mit allen Sinnen“, gefördert im Landesprogramm „Altenheim: Mitten im Leben“ des Hessischen Ministeriums für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege, verbindet handwerkliche Arbeit, biografische Impulse und soziale Nähe. Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz, geistiger Behinderung oder in palliativer Versorgung erleben dabei, wie Märchen Brücken schlagen – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Menschen und ihren Erinnerungen.
Im Mittelpunkt steht diesmal das Grimm-Märchen „Hänsel und Gretel“. Ein Stoff über Angst, Hunger, Orientierungslosigkeit – und über das Wiederfinden des Weges. „Es ist erstaunlich, wie lebendig Geschichten werden, wenn man sie nicht nur hört, sondern baut“, sagt Minh Luis, Leiterin des Betreuungsdienstes. „Unsere Bewohner haben an diesem Lebkuchenhaus nicht einfach gebastelt – sie haben Grenzen überschritten. Motorisch, emotional und manchmal herrlich chaotisch.“
Bereits Tage zuvor hatten die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam mit dem Betreuungsdienst Lebkuchenteile vorbereitet: Teig ausgerollt, Formen geschnitten, Wände gebacken und Dächer verklebt. Am Ende entstanden zwei Lebkuchenhäuser, sichtbar handgemacht, schief und stolz – Werke von Händen, die zittern dürfen, und von Geduld, die gelegentlich reißt. „Wir haben uns von Katastrophe zu Meisterstück vorgearbeitet“, erzählt Luis. „Der Zuckerguss war erst zu flüssig, dann hart wie Beton. Dächer rutschten, Wände fielen – aber niemand gab auf.“ Parallel backten die Bewohner Plätzchen, die später öffentlich verteilt wurden.
Der dramaturgische Höhepunkt folgte am Marktplatz des Hauses Stephanus, dem offenen Zentrum der Einrichtung. Aus dem Wagen des „Märchenmobils“ wurden die Lebkuchenhäuser gehoben, begleitet von Staunen und leiser Bewunderung. Gemeinsam mit Silvia Völker, Märchenerzählerin aus dem Alsfelder Märchenhaus, stellte Luis das Projekt vor. Dann begann Völker zu erzählen – ihre Stimme legte einen sprachlichen Wald über den Raum. Manche Bewohner sprachen Zeilen mit, andere nickten bei vertrauten Wendungen. Ein Herr murmelte: „Wie früher bei Muttern.“
Zum Abschluss sangen alle „Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald“. Die Melodie trug auch jene mit, die kaum noch Worte finden. Danach wurden die selbst gebackenen Plätzchen probiert. Teller wanderten von Hand zu Hand, Menschen sprachen über Geschmack, Kindheit und frühere Adventsabende. „So hat meine Mutter gebacken“, sagte eine Bewohnerin. Ein anderer erinnerte sich an heimlich abgeknabberte Smarties am Familien-Knusperhaus. „Es ist, als ob die Plätzchen kleine Türöffner wären“, beschreibt Luis. „Bewohner sprechen miteinander – nicht nur mit uns.“
Nach dem öffentlichen Teil begann eine stille, intime zweite Phase: die Zimmerbesuche. Luis und Völker beluden das Märchenmobil erneut – mit Lebkuchenhaus, Plätzchen, Märchenkoffer und kleinen Klang- und Sinnesmaterialien – und machten sich auf den Weg zu Bewohnerinnen und Bewohnern, die nicht mobil sind oder in palliativer Begleitung leben. Dort entfaltete das Märchen seine leise, aber kraftvolle Wirkung. Ein Bewohner, der kaum spricht, begann die ersten Worte der Liedzeile zu formen. Eine Bewohnerin strich vorsichtig über das Lebkuchendach und sagte: „So etwas hätte ich mich zu Hause nie getraut.“ Eine Angehörige am Bett eines schwerkranken Mannes sagte: „So eine Überraschung, so viel Zuwendung… das vergisst man nicht.“
Silvia Völker erzählte in den Zimmern kurze, angepasste Passagen des Märchens – manchmal nur Bilder, manchmal ein Satz, der genau passte. Luis und das Team reichten Plätzchen, hielten Hände, sangen ein paar Takte des Liedes. Märchen wurden hier nicht konsumiert, sondern geteilt – in einem Tempo, das jeder Mensch mitgehen konnte.
Dass solche Projekte möglich sind, hat eine strukturelle Grundlage: Das Haus Stephanus entwickelt „Märchen erleben mit allen Sinnen“ im Rahmen des Förderprogramms weiter. Ziel ist nicht eine einmalige Inszenierung, sondern ein wiederkehrender Baustein kultureller Teilhabe, der Biografien, Ängste und Ressourcen ernst nimmt. „Wir bauen nicht nur Lebkuchenhäuser“, sagt Luis. „Wir bauen Brücken gegen Einsamkeit – aus Teig, Geschichten und Nähe.“
Im Januar folgt das nächste Kapitel, möglicherweise mit „Aschenputtel“ – dann mit Linsen, Suppe und neuen Ritualen. Was bleibt, ist das Prinzip: Märchen als Handwerk der Seele, Gemeinschaft als Antwort auf Einsamkeit.
Fotos: MinhLuis/GFDE Haus-Stephanus













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