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Ukraine-Krieg: Gerd Ludwig erklärt die Gefahr, die heute von Tschernobyl ausgeht.Warum die Strahlung jetzt bereits angestiegen ist

ALSFELD. Kämpfe am Kernkraft Tschernobyl, eine anderes AKW brennt: Solche Nachrichten aus dem Krieg in der Ukraine schrecken besonders auf: Droht radioaktive Verseuchung? Auch der in Los Angeles lebende, aus Alsfeld stammende Top-Fotograf Gerd Ludwig ist alarmiert. Er war mehrfach in Tschernobyl, hat sogar im Katastrophen-Reaktor Bilder gemacht. Gerd Ludwig kennt die Gefahren. Im Gespräch mit Axel Pries erklärt er, warum die Strahlung bereits jetzt gestiegen ist.

Frage: Als ich die Nachricht mitbekam, dass die Russen das Kernkraftwerk Tschernobyl erobert haben, musste ich an dich denken, weil du dich dort doch gut auskennst. Hat die Nachricht dich auch erreicht? Hat sie dich erschreckt?

Ludwig: Ja, natürlich ist das in den Nachrichten angekommen. Aber ich befürchtete vorher schon jene unvermeidlichen Begleiterscheinungen, die dann ja auch eingetreten sind.

Im Katastrophenreaktor von Tschernobyl: Geschützt mit Atemmasken dringt das Team mit Gerd Ludwig immer tiefer ein. Foto: Gerd Ludwig

Welche Begleitumstände?

Ludwig: Es geht um den Level der Radioaktivität. Von einem Freund erfuhr ich von Truppenübungen, die die Ukraine dort schon vor der russischen Annexion abgehalten hatte. Sowohl die ukrainischen Truppenübungen als auch der Einmarsch der Russen in die Zone um Tschernobyl haben zu einer Erhöhung der Radioaktivität geführt.

Wie kommt so etwas?

Ludwig: Weil 1986 (im Jahre des Reaktorunfalls) der Regen die radioaktiven Partikel aus der Atmosphäre auf die Erde gespült hat, wo sie langsam eingesickert sind. Wenn aber Panzer darüber rollen, wirbeln sie radioaktiven Staub und die radioaktive Erde auf. Die Messwerte sind vor allem nach dem Einmarsch der Russen rapide hochgegangen und haben an die zulässigen Grenzwerte teilweise überschritten.

Ein Bild aus dem zerstörten Reaktor. Foto: Gerd Ludwig

Woher weißt du so etwas so gut?

Ludwig: Zum einen, weil ich einen Freund habe, der wissenschaftlich sehr versiert ist, der Kontakte dort hat und mir auch per WhatsApp die Werte geschickt hat. Woher er die hat, weiß ich nicht (Anmerkung auf Rückfrage: die Zahlen stammen von EcoCenter in Kiev und sind auch im Internet recherchierbar). Von einer Erhöhung der Werte durch Lastwagen wusste ich schon seit Jahren, denn an den Toren von Prypjat ist eine Schranke mit einem Wärterhäuschen.

In meinem Buch über Tschernobyl kann man ein Bild sehen, auf dem eine Leuchtziffer den aktuellen Wert der Belastung zeigt. Auf dem Bild sieht man eine 61. Das bedeutet 61 Mikroröntgen pro Stunde. Der Wärter erklärte mir damals, dass der Wert sprunghaft steigt, wenn Lastwagen dort entlang fahren.

Das reicht bereits aus, um Werte steigen zu lassen?

Ludwig: Ja. Es ist auch eine Mär, dass sich die Wälder in der Sperrzone unberührt zu einer Art Urwald entwickeln. Tatsächlich werden sie gemanagt wie viele deutsche Wälder auch, indem trockene abgestorbene Bäume sofort entfernt werden. Die Gefahr ist zu groß, dass da ein Waldbrand entstehen könnte, der die am Boden lagernden radioaktiven Staubpartikel in die Luft bringen würde.

Bei der Arbeit: Gerd Ludwig hat nach dem Jahr 2000 mehrfach den Verfall der Stadt Prypjat in der der Sperrzone dokumentiert. Bild: Gerd Ludwig

Du kennst den Reaktor gut, du warst ja auch drin. Wie sicher war die Strahlung denn in dem geborstenen Kraftwerksreaktor verwahrt – ohne Kampfeinwirkungen?

Ludwig: Das war gar nicht sicher, weil der explodierte Reaktor sich selbst überlassen werden musste, da konnten ja keine Reparaturarbeiten durchgeführt werden. Und das Dach war einsturzgefährdet. Und deshalb hat man darüber gewissermaßen ein neues Dach gestülpt – man nennt das New Safe Confinement – damit man darunter arbeiten kann, ohne dass Staub nach außen dringt.

Du meinst den Sarkophag, den sie darüber geschoben haben?

Ludwig: Man nennt das eigentlich nicht Sarkophag. Die erste notdürftige Abdichtung ist eigentlich der Sarkophag, und der hatte schon große Brüche in den Mauern, durch die der radioaktive Staub von nach draußen entweichen konnte. Die zweite Hülle war auch notwendig, weil das Reaktordach einsturzgefährdet war. im schlimmsten Fall hätte das eine ähnliche Katastrophe wie 1986 bedeutet. Es liegen noch 200 Tonnen geschmolzener, nuklearer Brennstäbe unter dem Reaktor. Deren Radioaktivität könnte ins Freie gelangen. Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt, der mit Blick auf die Kampfhandlungen wichtig ist.

Am AKW, bevor es seine zweite Hülle bekam. Bild: Gerd Ludwig

Der betrifft die Hülle um den Reaktor?

Ludwig: Als die Hülle gebaut wurde, hat man die Erde um den Reaktor abgetragen. Das war das am stärksten verstrahlte Erdreich. Teil davon sind in der Sperrzone nur mit Stacheldraht gesichert deponiert worden. Ich weiß nicht, ob das Panzer aufhält, ob die Panzerfahrer wussten, dass sie da nicht drüber fahren dürfen. An einigen Stellen in der Zone ist die Radioaktivität ohnehin noch extrem hoch; diese Stellen sollte man kennen, und sie umfahren.

Wie sicher ist denn der Kuppelbau über dem Katastrophenreaktor?

Ludwig: Der Kuppelbau hat ein Gewicht von 29.000 Tonnen. Das klingt nach solidem Metall, ist es aber nicht. Der Bau hat zwar Metallstreben, aber das Dach besteht mehrheitlich aus Kunststoff (Polycarbonat), weil die gigantische Konstruktion sonst viel zu schwer geworden wäre.

Das heißt, es handelt sich um eine Leichtbauweise.

Ludwig: Die Kuppel ist auch nur für 100 Jahre ausgelegt. Sie ist ganz, ganz leicht zu zerstören. Wenn da eine Rakete reingeschossen wird, kann das einen Unfall auslösen, der schlimmstenfalls ganze Teile Europas erneut verseucht.

Als es hieß, die Russen erobern Tschernobyl, hast du befürchtet, dass dabei etwas schief gehen könnte? Und sei es nur aus Versehen?

Ludwig: Die Gefahr, dass dabei etwas schief geht, war real und ist es auch jetzt noch!

Auch über die Menschen in der sogenannten Todeszone berichtete Gerd Ludwig, so über diese alte Frau, die der Gefahr zum Trotz in ihr Haus zurückgekehrt ist. Foto: Gerd Ludwig

Frage: Aber jetzt ist es doch wieder ruhig in Tschernobyl.

Ludwig: Es ist aber nicht unbedingt sicherer. Ein Kernreaktor lässt sich nicht einfach so abschalten. Die drei anderen Reaktoren von Tschernobyl gibt es auch noch. Der letzte ist erst im Jahr 2000 stillgelegt worden, und als ich dort fotografiert habe im Jahr 2012, waren die Kontrollräume zur Überwachung der abgeschalteten Reaktoren noch rund um die Uhr besetzt. Die haben aufgepasst, dass da nichts schiefläuft.

Frage: Also muss auch ein abgeschalteter Reaktor immer bewacht werden? Es geht weiter Gefahr von ihm aus.

Ludwig: Ja, und es arbeiten dort immer noch viele Leute. Selbst ein abgeschalteter Reaktor ist eine sehr diffizile Angelegenheit. Die Gefahr ist, wenn die Russen dort übernehmen – sie haben die Wachmannschaft ja überwältigt und durch eigene Leute ersetzt, – dass das den bisherigen Überwachungsbetrieb stört. Ich weiß nicht, ob die bisherige Mannschaft noch aktiv ist, die sich dort seit langem auskennt. Du kannst nicht einfach mal 60 eingespielte Leute ersetzen und glauben, dass es reibungslos und sicher weitergeht.

Frage: Und jetzt die Nachricht vom Angriff auf das AKW Saporischschja? Dass es dort einen Brand gab, hat in Deutschland für Entsetzen gesorgt. Auch in den USA?

Ludwig: Ja! Die Nachricht ist auch hier ein großes Thema.

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