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Neues OVAG-Buch „Mach des Gekreisch“: Leute über Kindheit und Jugend in FünfzigernEin Stück „Geschichtsschreibung von unten“

VOGELSBERGKREIS (ol). „Kurz nach der Konfirmation klapperten die Frisör-Scheren, denn endlich durften sich die Mädchen ihrer Zöpfe entledigen“, schreibt eine Autorin. In einem anderen Beitrag hießt es: „Meine Eltern waren der Meinung, Gymnasium rentiert sich nicht für ein Mädchen.“ Und ein Seufzer hinterher: „Aber man fügte sich eben.“ Dagegen die Erinnerung eines damals 18-Jährigen: „Oft mischte sich ein süßlicher Duft in die Rauchschwaden. Da konnte ich nicht widerstehen.“ Und eine junge Frau aus Nidda befürchtete: „Es drohte, aus mir kein gutes deutsches Mädchen zu werden.“ Grund: Sie ließ sich im Freibad im Bikini und mit Zigarette im Mund fotografieren.

Es war eine Zeit der politischen Unruhen, aber auch des weiteren Aufbruchs: In der Technik, in der Wissenschaft, in der Mode und in der Musik. Musik, die in den sechziger Jahren nicht überall auf offene Ohren traf. Darauf spielt der Titel eines neuen Buches der OVAG an: „Mach des Gekreisch aus!“ Es geht in diesem Buch auch um eine vermeintliche Moral, die vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges in den naiven Flower-Power-Slogan gipfelte: „Make love, no war“.

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Damals angesagt: Karin Bach trug eine der beliebten Hochsteckfrisuren.

Mithin ein verwirrendes, ein widersprüchliches Jahrzehnt. Obwohl das Wirtschaftswunder immer noch auf vollen Touren drehte, wenngleich es erste Ermüdungserscheinungen zeigte, obwohl es gerade im ländlichen Bereich immer noch viel Nachholbedarf gab (die zunehmende Werbung öffnete die Augen für so manches vermeintlich wichtige oder attraktive Angebot), brach nun der Firnis auf über das Verdrängen jener Fragen, die so lange nicht gestellt worden waren. Die Beschäftigung also mit dem, was Deutschland und die ganze Welt nur wenige Jahre zuvor in den Abgrund gerissen hatte.

„Geh doch rüber, wenn es dir hier nicht passt!“

Nun stießen Welten aufeinander und dabei rumste es gewaltig im Karton. Auf der einen Seite das „Weiter so“ und „Keine Experimente“, auf der anderen Seite Revolte, Provokation, Anderssein. Teilweise standen sich diese Weltanschauungen misstrauisch, unversöhnlich gegenüber. Zuweilen betoniert in Dogmen, gebündelt in Parolen wie „Unter den Talaren der Muff aus Tausend Jahren“, „Geh doch rüber, wenn es dir hier nicht passt!“, „Trau keinem über Dreißig“ oder „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“.

Nach dem großen Erfolg des Buches „Des is´ kei Fräulein, des is´ e aalt Hex“ über die Fünfzigerjahre, das vor einem Jahr erschien, hat die OVAG nun ein Buch herausgegeben mit Erinnerungen aus Kindheit und Jugend der Sechzigerjahre in Oberhessen. Neunzig Zeitzeugen aus den Landkreisen Wetterau, Gießen und Vogelsberg berichten in Wort und teils auch in Bild, wie sie diese nicht nur für sie besondere Zeit erlebt haben.

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Mit Knicks und Verbeugung: Tanzstunde in Schotten.

Besonders auffällig sind dabei die Unterschiede zwischen Städten, die gerade mal achtzig Kilometer entfernt waren. In Friedberg beispielsweise Pille, freie Berufswahl und der erste Flug nach Mallorca – in Lauterbach Freude darüber, dass der Vater überhaupt zustimmte, dass die Tochter eine Lehre antreten durfte. Wenngleich nur in einer Spankorb-Fabrik. Und der erste Freund, der wurde später natürlich auch geheiratet.

Ein heutiger Bürgermeister erinnert sich so an seine Schulzeit: „Wir Neuankömmlinge aus den umliegenden Gemeinden trugen selbstverständlich die guten Stoffhosen mit Bügelfalten und ein Nyltest-Hemd. Und gerade deshalb wurden wir als Neulinge erkannt.“ Und eine Auszubildende im Landratsamt: „Mit langen Hosen durfte man nicht zur Arbeit kommen. Man musste einen Rock tragen.“

„Gebetet, dass die führenden Politiker Vernunft annehmen“

Das Buch erzählt von politischem Erwachen, etwa über die erste Demonstration in Okarben und Unruhen in der Augustinerschule in Friedberg. Aber auch über Ängste: „Bei der Kuba-Krise haben wir gebetet, dass die führenden Politiker Vernunft annehmen.“ Über den ersten Joint, über die verzweifelte Suche, mit der Freundin einmal allein eine Nacht in einer Pension verbringen zu dürfen oder dem verzweifelten Wunsch nach Hotpants, über den ersten Fernsehapparat, über die ersten Gastarbeiter, über lang gezogene Ohren in der Schule und über die vielen Bands und Teenagerbälle, die landauf landab an Beliebtheit gewannen. Über den Drang nach mehr Freiheit, körperlich wie geistig.

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Erinnerung an Jahrzehnte der Kinder und Jugend: das OVAG-Buch.

Ein Buch, das gewissermaßen „Geschichtsschreibung von unten“ ist. Andreas Matlé vom Redaktions-Team der OVAG: „Über Kennedy, Vietnam und den ersten Menschen auf den Mond wird man noch in einhundert Jahren lesen können – hier aber berichten die Menschen, wie sie diese Zeit für sich vor ihrer Haustüre erlebt haben. Über die Dinge, die sie persönlich betroffen, die sie bewegt haben.“

„Mach des Gekreisch aus!“ (ISBN978-3-9815015-9-0), 292 Seiten mit vielen Fotos, Hardcover, Schutzumschlag mit Lesebändchen. 18 Euro. Erhältlich in den Geschäftsstellen xxxxxxxxxxxxxxxxxxx; bei der OVAG unter der Rufnummer 06031 6848 1252), bei der OVAG im Dienstleistungszentrum Wetterau (Friedberg Europaplatz) sowie in jeder Buchhandlung. Für 18 Euro gibt es dort auch noch das 50er-Jahre-Buch „Des is´ kei Fräulein, des is´ e aal Hex“.

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