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ENGLAND VON INNEN - Ein Blick auf die Kommunalpolitik der BritenWenn der Bürgermeister auf die Waage muss

ALSFELD/ENGLAND. Engländer und Deutsche – so sehr unterscheiden sie sich gar nicht. Ein paar Kleinigkeiten laufen aber doch ein bisschen anders auf der Insel. Unser Redakteur Juri Auel verbringt den Sommer als Gastreporter an der englischen Südküste. Für uns beleuchtet er „England von innen“ und berichtet beispielsweise, warum man als englischer Bürgermeister Bier mögen und zeitgleich auf sein Gewicht achten sollte. Ein unterhaltsamer Blick auf die britische Kommunalpolitik. 

Ausdauer hat Mike Ryan noch. Es könnte also ruhig noch ein wenig weiter gehen, doch der nächste Termin drängt. Seine Frau Lin und er werden beim Karnevalsclub erwartet. Deswegen ist um 13.49 Uhr Schluss. 455 Fotos hat der Fotograf in knapp vier Stunden an diesem heißen Julimorgen von ihm und seiner Frau geknipst, 29 werden übrig bleiben und in der Zeitung gedruckt.

Die Fotos sind gestellt, aber trotzdem recht nett anzusehen. Zum Beispiel als die beiden beim Fleischer mit Schinken und Hackebeil posieren, oder sie im Wolladen beinahe von einer kunterbunten Flauschewand verschluckt werden. Auf keinen Fall darf man aber den Schnappschuss auf dem Pferde-Zubehörladen vergessen, in dem Mike Ryan und seine Frau auf zwei Kunstpferden Platz genommen haben, Reiterstiefel an den Waden, Gerte in der Hand, Lachen im Gesicht.

Flauschiges Foto: Das Bürgermeister-Paar in einem Wollladen.

Flauschiges Foto: Das Bürgermeister-Paar in einem Wollladen.

Auf allen Fotos blinkt dem Betrachter das ehrwürdige Erkennungszeichen von Mike Ryans Amt entgegen: Die güldene Kette des Bürgermeisters. Das Fotoshooting war Teil einer städtischen Werbekampagne in Kooperation mit meiner Zeitung für kleine, unabhängige Läden in der 25 000 Einwohner-Stadt. In deutschen Lokalredaktionen grummelt man ja manchmal, wenn sich der Bürgermeister in all zu viele Fotos reinschmuggelt. In Newton Abbot ist Mike Ryan niemand böse darum. Es ist, könnte man etwas zugespitzt sagen, eigentlich seine Hauptaufgabe als Bürgermeister.

Wichtigste Aufgabe: Repräsentieren

„Ich habe zwar ein Büro im Rathaus, aber meine wichtigste Aufgabe ist das Repräsentieren“, erzählt Mike Ryan, Mitte 60, schütteres graues Haar und Kastenbrille, mit tiefer Stimme. Er ist Councillor, also Mitglied im Stadtparlament. Seine Kollegen haben ihm und somit auch seine Frau für ein Jahr die Ehre verliehen, die Stadt nach außen hin zu vertreten. Ein paar Tage vor dem Shooting spielte Mike Ryan bei einem kleinen historischen Theaterstück mit, um den 800. Geburtstags des berühmten Dokuments Magna Carta zu feiern. Ein paar Tage später war er dabei, als tausende Gummienten für ein Wohltätigkeitsrennen in einen Bach gekippt wurden. Repräsentieren heißt eben viele verschiedene Anlässe, auf denen man sich sehen lassen muss.

Politisch zu melden hat Mike Ryan nicht viel. Der Bürgermeister ist allerdings nicht überall in England so schwach. Handelt es sich um einen elected mayor, also um einen vom Volk gewählten Rathauschef, kann der durchaus ähnlich wie bei uns gezielt Einfluss auf die Stadtpolitik nehmen, Gremien widersprechen. Außerdem wird er bezahlt. Auch der elected mayor trägt die goldene Amtskette als sein Erkennungsmerkmal. Manchmal gibt es auch gar keinen Bürgermeister. Welches System gilt, ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Eine einheitliche Regelung gibt es nicht. Generell ist die Verwaltung hier recht verschachtelt.

Eine Stadtratssitzung läuft etwas anders als bei uns ab. So darf das Publikum beispielsweise zu Beginn Fragen stellen. Danach wird die Tagesordnung durchgekaut. Aber: Wie in Deutschland, sollten die Abgeordneten keine Zwiegespräche führen, sondern stets den Vorsitzenden ansprechen. Das soll helfen, Ordnung zu halten.

Volles Haus: In dem kleinen Örtchen Chudleigh kamen über 130 Leute zu einer Bauausschusssitzung. Es gab heftigen Streit über ein neues Gebäude, welchem in der Mitte des Ortes entstehen soll.

Volles Haus: In dem kleinen Örtchen Chudleigh kamen über 130 Leute zu einer Bauausschusssitzung. Es gab heftigen Streit über ein neues Gebäude, welchem in der Mitte des Ortes entstehen soll.

 

Das kleine Örtchen Bovey Tracey steht symbolisch für andere englische Kleinstädte. So wie hier, geht es bei vielen Stadtparlamentssitzungen zu. Es ist ein lauer Sommerabend, als man sich im Saal des Rathauses versammelt. Bevor die Versammlung offiziell startet, ergreift der Bürgermeister das Wort. Man wolle jetzt wie gewohnt die Sitzung mit einem kurzen Gebet eröffnen. Der Pfarrer sitzt schon in den Startlöchern. Allerdings sei das kein offizieller Akt der Versammlung, betont er. Außerdem sei es jedem gestattet, dem es widerstrebe, bei dieser kleinen Zeremonie anwesend zu sein, den Raum für das kurze Gebet zu verlassen.

Das scheint sehr typisch für England. Man versucht, möglichst säkular zu sein, Religion und Staat so weit wie möglich voneinander zu trennen. Das hat allerdings nicht wie etwa in Frankreich eine Verbannung jedweder religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum zufolge. Vielmehr gibt es keine Vorschriften, keinen Zwang für niemanden etwas zu tun, was dem Glauben widerspricht.

Der Turban ist  im Dienst erlaubt

Am Flughafen sieht man Personal mit Kopftuch, Polizisten mit pakistanischer Abstammung ist es erlaubt, anstatt ihrer Dienstmütze einen Turban zu tragen. Aber weil es verboten ist, eine staatliche Angelegenheit wie die Stadtparlamentssitzung mit einem Gebet zu eröffnen, gibt es vorher eben den kleinen Warnhinweis. Und wer will, kann im Gericht immer noch auf eine abgegriffene Bibel schwören. Ein wenig paradox ist das schon.

Der Pfarrer blieb übrigens noch eine Weile und berichtete später ganz offiziell über die Geschehnisse der Gemeinde. Normalerweise wird zudem ein Polizist geladen, der über die aktuelle Sicherheitslage der Region berichtet. Doch dieses Meeting musste ohne den Report auskommen. Der Wachtmann war verhindert.

Bier trinken und nicht zunehmen

Wer in England Bürgermeister werden möchte, der sollte unter Umständen Bier mögen und wissen, wie er sein Gewicht behält. Beides geht nicht wirklich leicht miteinander einher, wie viele Männer in jahrelangen Selbstversuchen herausfinden mussten.

Die Engländer sind stolz auf ihr Bier. Das Ale, oder das real Ale. Es gibt Bierfeste, auf denen 60 verschiedene Alesorten angepriesen werden. Ab und zu muss das Gesöff fachmännisch verkostet werden. In Newton Abbot  ist es alter Brauch, dass der Bürgermeister mit anderen Offiziellen sich ein Mal im Jahr tapfer durch jeden Pub der Stadt durchtrinken muss, um am Ende das beste Ale zu küren.

Die Selbstbeherrschung in Sachen Gewichtszunahme braucht nur, wer Chef eines Städtchens namens High Wycombe werden möchte. Dort gibt es seit über 300 Jahren einen einzigartigen Brauch: Der Bürgermeister wird am Anfang und am Ende jedes Amtsjahres gewogen.

Hat er zugelegt, nimmt man an, er habe sich vom Geld der Bürger fettgefressen. Früher war das ein wirklich ernster Akt, bei dem ein hungriger Rathauschef auch gerne vom tobenden Mopp mit faulem Gemüse beworfen wurde. Heute ist es nur noch eine nette Tradition. So eine große Waage sähe doch bestimmt auch vor dem Alsfelder Rathaus ganz schnieke aus.

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Von Juri Auel  – mehr über den Autor 

 

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