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ENGLAND VON INNEN: OL-Redakteur Juri Auel berichtet von den Wahlen im UK – Fotos verboten!Selfie mit Wahlzettel? Nicht bei den Briten!

ALSFELD/ENGLAND. Die Briten haben entschieden: David Cameron hat für fünf weitere Jahre das Sagen auf der Insel. Wer den Briten etwas auf die Finger schaut, bemerkt: Wahl geht dort drüben etwas anders als bei uns. OL-Redakteur Juri Auel verbringt diesen Sommer als Gastreporter in einer englischen Lokalzeitung und wundert sich über manche Eigenarten der britischen Demokratie. Ein Vorort-Bericht über manipulierende Medien, lange Wahlnächte und striktes Selfie-Verbot. 

Es ist 10.21 Uhr am Freitag, dem Morgen nach der Wahl. Der klischeehaft englisch-graue Wolkenhimmel über der kleinen Südenglischen Stadt Newton Abbot passt zur Gemütslage von Paul James. Paul, 57, ist eigentlich Gerichtsreporter für den Mid Devon Advertiser. Gerade ist er auf dem Weg zur Pferderennbahn seiner Stadt. Wetten will er dort nicht, das hält er für Zeitverschwendung.

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Neue Serie: „England von innen“ – Einsichten von der Insel

Seit vier Wochen hält sich Juri Auel, Redakteur bei Oberhessen-live, im Süden Englands auf, genau: in dem Küstenort Torquay. Weitere fünf Monate sollen es werden, in denen er bei einer englischen Zeitung ein Praktikum in der Redaktion absolviert. Das ist genügend Zeit, das ist nah genug am einheimischen Leben, dass er englische Gepflogenheiten kennenlernt, die uns wenig oder nicht bekannt sind. Das ist Stoff für Geschichten! Daher wird Juri Auel in den nächsten Monaten in unregelmäßigen Abständen erzählen, wie sie denn so sind, die Engländer unter sich, was sie von uns und Europa denken und warum. „England von innen“ nennen wir die Reihe, die aus aktuellem Anlass mit diesem Thema beginnt: den englischen Parlamentswahlen.

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Die Halle auf dem Renngelände ist vielmehr ein zentraler Auszählungsort für die Stimmzettel einer parallel zur großen Wahl stattfindenden lokalen Abstimmung. Die Bürger des Destricts Teignbridge wählen ihr Council, eine Art Kreistag, der ohne Landrat auskommt. Paul, der über die Auszählung berichten soll, ist Angänger der Labour Party, die weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene einen Blumentopf gewonnen hat. Er macht seinem Frust mit  typisch britisch-bissigem Humor etwas Luft. Es gäbe keinen besseren Ort, diese Stimmen zu zählen, als eine Pferderennbahn, schnauft er. „Die Leute verzocken die Zukunft unseres Landes, weil sie diese bescheuerten Tories gewählt haben. Genau wie sie’s mit ihrem Geld auf der Rennbahn tun“, sagt Paul.

Fleißige Helfer: Die Veranstaltungshalle des Pferderennen-Kurses in Newton Abbot wurde zur zentralen Stimmenzähl-Stelle. Nur von dieser Perspektive aus war das Fotografieren erlaubt. Fotos: jal

So oder so ein Ort für heiße Rennen: Der Pferderenn-Kurs in Newton Abbot. Am Freitag wurden die Stimmen der Kommunalwahlen an der englischen Südküste dort ausgewertet.

Wenn bei uns ein neuer Kreistag gewählt wird, stehen die Ergebnisse noch am selben Abend im Internet. Bei den Briten ist das ein klein wenig anders. Das liegt zum einen daran, dass ihre Wahllokale länger offen haben als unsere. Um zehn Uhr Abends ist Schluss, da haben unsere neuen Verwaltungschefs meistens schon die ersten Siegerbiere intus. Außerdem zählen sie die Stimmen nicht direkt vor Ort, sondern verfrachten die Urnen zunächst an Sammelorte, wie eben die Pferderennbahn in Newton Abbot. Knapp 640 Quadratkilometer ist der District Teignbridge groß, 124 000 Menschen wohnen dort. Manche Wahlurnen haben eine Reise von knapp 40 Kilometern hinter sich, ehe sie geöffnet werden. Die letzen Stimmen werden gut 19 Stunden nach Ende ausgewertet sein.

46 Abgeordnete hat der Kreistag von Teignbridge. Aus dem gesamten District trudeln am Freitagmorgen die Kandidaten ein, um bei der Auszählung dabei zu sein. Auch auf der lokalen Ebene gilt in England das Mehrheitswahlrecht. Je nach  Größe der Wahlbezirke kommen die ersten drei, zwei oder auch nur ein Kandidat in den Kreistag. Die anderen Stimmen fallen unter den Tisch.

Rechts an ihre Jackets haben sich die Kandidaten Schärpen in den Farben ihrer jeweiligen Partei geheftet. Terry Bannon, 62, hat sich gleich für eine komplett Labour-rote Windjacke entschieden. Der 62-Jährige hat keinen Posten erwischt, was auch nicht zu erwarten war, wie er sagt. Die Region ist traditionell in Tory-Hand.

Audio-Beitrag: So lief die Wahl im Vereinigten Königreich

Seine Partei habe es auf nationaler Ebene nicht geschafft, ihre Anliegen zu vermitteln. Das sei aber auch gar nicht so einfach. „Die meisten traditionellen Medien unterstützen die Tories“, erklärt Bannon. Auf der Insel spielen Zeitungen im Wahlkampf in der Tat eine andere Rolle, als man das in Deutschland gewohnt ist. Auch bei uns weiß der kluge Leser, was er von welchem Blatt erwarten kann. Wer in der taz einen Leitartikel vermutet, der für ein schärferes Asylrecht wirbt, kann lange suchen. Dafür ist die Redaktion der faz eher weniger Fan von Frauenquote oder Mindestlohn.

Im Vereinigten Königreich gehen die Journalisten aber einen Schritt weiter, in dem sie konkrete Wahlaufforderungen drucken. Am Tag der Wahl titelte die Sun, die britische Version unserer Bild: „Gehen SIE heute auf jeden Fall wählen und stoppen Sie Labour  darin, unser Land zu ruinieren“. Würde eine deutsche Zeitung so etwas drucken, säßen danach einige arbeitslose Journalisten mehr in den Fluren der Arbeitsagenturen herum.

Mischen im Wahlkampf kräftig mit: Britische Zeitungen geben konkrete Wahlaufforderungen. In dieser Weise undenkbar in Deutschland.

Mischen im Wahlkampf kräftig mit: Britische Zeitungen geben konkrete Wahlaufforderungen. In dieser Weise undenkbar in Deutschland.

Das Auszählen der Stimmen übernehmen wie bei uns Freiwillige, die eine Aufwandsentschädigung bekommen. Über 400 Euro kann der Dienst an der Demokratie einbringen, die meisten bekommen allerdings weniger. In der gesamten Halle am Rennkurs haben Helfer Tische aufgestellt. An drei Seiten der Tischplatte sind schmale Bretter befestigt, damit nichts herunterfällt. Ein bisschen stehen die Tische aus wie überdimensionale Schubladen.

Ein Gehege für Fotografen

Es ist 11,03 Uhr gleich fällt der Startschuss für die ersten Zählungen. Ein kräftig gebauter Helfer juckelt mit einem breiten Grinsen einen Einkaufswagen aus einem Nebenkämmerchen in die Halle. In seinem Vehikel türmen sich durchsichtige Müllbeutel, gefüllt mit bunten Stimmzetteln. Ein tolles Fotomotiv. Doch bevor die Kamera klick macht, schreitet die Pressesprecherin des Destricts ein. „Nein, das darf nicht fotografiert werden“, sagt sie.

Die Wahlzettel sind mit individuellen Barcodes versehen. Aus Sorge, jemand könnte einen Wahlzettel wieder erkennen, herrscht nahezu ausnahmsloses Foto-Verbot in der Auszähl-Halle. Das könnte das Wahlgeheimnis verletzten, sagen die Wahlhelfer. Auch Handys müssen ausgeschaltet sein, Selfies, Twitter und Facebook sind tabu. Niemand soll das Ergebnis herausposaunen, bevor es offiziell verkündet wurde. Wer hätte gedacht, dass Deutschland gerade vom Vereinigten Königreich, einer Nation, in der man buchstäblich keinen Schritt machen kann, ohne nicht von einer Überwachungskamera beschattet zu werden, etwas über Datenschutz lernen kann.

Ein bisschen Spaß, kurz vor Feierabend: Wegen des aufwendigen Zählsystems waren Elen Grindley und ihr Kollege Pau James vom Mid-Devon Advertiser einen ganzen Tag damit beschäftigt, über die Landkreiswahl zu berichten. Das geht in Deutschland ein wenig fixer.

Ein bisschen Spaß, kurz vor Feierabend: Wegen des aufwendigen Zählsystems waren Elen Grindley und ihr Kollege Paul James vom Mid-Devon Advertiser einen ganzen Tag damit beschäftigt, über die Landkreiswahl zu berichten. Das geht in Deutschland ein wenig fixer.

Lediglich von einer klitzekleinen Ecke heraus dürfen „generelle Fotos“ des Geschehens in der Halle gemacht werden. „Sie dürfen keine Zettel zeigen“, ermahnt die Aufpasserin nochmals. Okay, verstanden. Nicht überall im Land scheint man sich strikt an die aus deutscher Sicht etwas paranoiden Regeln zu halten. Das Netz ist voll von Pressebildern, die ausgekippte Wahlurnen zeigen. Zu Recht, soll die Auszählung der Stimmen doch gerade ein öffentliches Geschehen und kein heimliches Gemauschel im Hinterkämmerchen sein.

Paul James hat den Tag mit seinen Kollegen in einem Nebenraum der Halle verbracht. Dunkler Teppich, der Kühlschrank ist voller Schampus. Normal werden die Renngäste hier verköstigt. Die krächzenden Lautsprecher haben über den Tag verteilt die Ergebnisse aus 25 Wahlbezirken verkündet. Paul hat sie alle einzeln aufgeschrieben, Mails an die Redaktion verschickt, kurze Interviews mit den wichtigsten Kandidaten geführt. Der Ärger über die Schlappe der Labour-Party ist aus seinem Gesicht verschwunden. Erschöpfung hat seinen Platz eingenommen. „Schluss mit Politik für heute“, scheint Paul sagen zu wollen. Dann ist es Zeit, für den Feierabend.

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