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Villa Raab: Ein Blick in die Geschichte einer Fabrikanten-Familie – Wasser gab den Ausschlag für die entscheidende IdeeIm Kaiserreich musste es schon ein Palais sein

ALSFELD. Man stelle sich die Szene vielleicht so vor: Der Pfeifenfabrikant Ludwig Raab hat zur Einweihung geladen, und nun fahren sie vor, die gutsituierten Alsfelder jener Zeit. Die Bückings und die Wallachs, die Ramspecks kommen mit schmucken Kutschen, die Herren mit Frack und Zylinder, die Damen im Festagskleid unter ausladenden Hüten. Man bewundert pflichtschuldigst den großen Garten, das Fabrikgebäude – und vor allem das prachtvolle Haus, das neu an Alsfelds Stadtrand entstanden ist, noch etwas prachtvoller als die eigenen Villen. Man schreibt das Jahr 1904, und gemeint ist die Villa Raab. Deren Geschichte beginnt vor 110 Jahren – die der Raabs in Alsfeld aber noch 50 Jahre davor.

Dieses Haus unter der offiziellen Adresse Altenburger Straße 60 ist zu einem kleinen Wallfahrtsort geworden, seit es von der Straße wieder zu sehen ist: Unzählige Menschen bleiben stehen und bestaunen die Villa, machen Fotos von der bröckelnden Fassade, die in wenigen Jahren wieder neu erstrahlen soll. Als Oberhessen-live Bilder aus dem Inneren veröffentlichte, war das Echo riesengroß – häufig verbunden mit der Frage nach der Geschichte. Wer waren die Leute, die darin lebten, warum wurde die Villa so gebaut, wie sie heute bewundert wird? Die Faszination, die von dem Haus ausgeht, hat auch Historiker erfasst – letztlich den Alsfelder Architekten Jochen Weppler, der den Auftrag von dem Eigentümer-Ehepaar Ralf und Tanja Bohn erhielt, es denkmalgerecht zu sanieren. Eine Herkules-Aufgabe mit noch vielen Fragezeichen.

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Die Villa Raab: Eine große Aufgabe für den Architekten Jochen Weppler – und eine höchst interessante für den Historiker im Architekten. Foto: aep

Aber man sieht dem Architekten und Historiker die Begeisterung an, mit der er die Aufgabe übernommen hat. Es geht um das letzte erhaltene Industrie-Ensemble in Alsfeld aus dem 19. Jahrhundert, schwärmt der Geschichtsforscher im Architekten. So viel Faszination die eigentliche Villa ausmacht – mit dem ganzen Projekt verbunden sind tatsächlich acht Gebäude auf einem fast einen Hektar großen Areal: die alte Fabrik, das alte Trafohaus, die Wohnhäuser der damaligen Arbeiter-Familien, zwei Scheunen, die wohl nicht mehr zu retten sind. Und alleine bei der Ruine des Fabrikgebäudes steht eine schwere Entscheidung an: Sollen die seit einem Brand vor über zehn Jahren recht wackligen Wände erhalten werden? Dem Historiker ist anzusehen: Er würde gerne. Das alles gehört doch zusammen seit damals, seit Ludwig Raab kurz vor 1900 aus der Altstadt wegzog, um am Mühlenbach mit der Kraft das Wassers der Produktion seiner Pfeifen noch mehr Auftrieb zu geben. Gehen wir in das Jahr 1869 zurück.

1869: erste Pfeifenfabrikation am Grabbrunnen

Da gründete Johann Ludwig Raab seine Pfeifenfabrikation am Grabbrunnen, und seine Geschiche ist in einem Band des Geschichts- und Museumsvereins nachlesbar. Er war kein gebürtiger Alsfelder, war erst ist den 1850er Jahren aus Utpe bei Hungen in die Stadt gekommen und hat in den ersten Jahren vielleicht in der Pfeifenfabrik Waldeck gelernt. 1856 wird der Sohn Ludwig geboren – obwohl, so merkt die Geschichte an, es keinen Eintrag über eine Ehe mit dessen Mutter Franziska Eiselt gibt. Aber 1873 wird Johann Ludwig als Horndreher offiziell als Alsfelder Bürger anerkannt.

Die Raabs bauen in der Untergasse und am Grabbrunnen ein offenbar blühendes Unternehmen auf: Oben steht das Wohnhaus mit Geschäft für Pfeifen- und Stöcke, unten am Grabbrunnen die Produktionsstätte dazu, in der der Betrieb 1878 vier Gehilfen und ein paar Lehrjungen beschäftigt. Sohn Ludwig tritt 1886 erstmals in Erscheinung: Ab da wird er offiziell auch in dem Unternehmen mit geführt, das damals die ganze Ecke zwischen Grabbrunnen und Untergasse beansprucht. 1892 stirbt der Vater, und zwei Jahre später hat Sohn Ludwig die Idee, die am Ende zum Bau der Villa an der Altenburger Straße führt.

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So fing es an: Die Belegschaft der Pfeifenfabrik hat sich im Garten vor der frisch fertig gestellten Villa und dem Produktionsgebäude versammelt. Zum Vergrößern kann man auf das Bild klicken.

Es ist der dortige Mühlenbach, der ihn interessiert. 1894 wird das Mühlengelände von Eduard Specht versteigert, und Ludwig Raab schlägt zu. Bereits im Jahr darauf verlegt er einen Teil der Produktion an die Altenburger Straße um die Wasserkraft zu nutzen. Die bestehenden Wohn- und Produktionsgebäude lässt er zu Wohnungen mit zwei bis drei Zimmern für zwölf Arbeiter-Familien umbauen – seine Arbeiter. Und bei der Anlage des Gartens um die spätere Villa herum zeigt er sich als großzügiger Arbeitgeber: Einen Teil des Geländes stellt er den Familien für Gemüsegärtchen zur Verfügung. Davon zeugt heute noch ein Absatz im Garten der Villa: Der markierte einst die Grenze.

„Man stellt etwas dar im Kaiserreich!“

Bei der Gestaltung seines künftigen Familiensitzes hatten Ludwig Raab und seine Ehefrau Marie Specht wahrscheinlich die prachtvollen Villen der anderen Alsfelder Fabrikanten im Blick, die an der Marburger Straße von Wohlstand und Reichtum zeugen. „Man stellt etwas dar im Kaiserreich!“ So fasst heute der Architekt Jochen Weppler die Gedanken hinter der aufwendigen Gestaltung zusammen. Ludwig Raab ließ ein Backsteinhaus in Palais-Architektur mit Barock- und Jugendstil-Elementen errichten. Zwei Jahre dauerte das Projekt, zu dem die originalen Bauzeichnungen erhalten sind.

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Alles aus Horn: Die Geschäfte der Fabrik liefen über Jahrzehnte offenbar sehr gut.

Damals noch nicht selbstverständlich: Das Haus bekam eine mit Kohle betriebene Dampf-Zentralheizung im Keller. Das Treppenhaus ist an der Seite von außen zugänglich: So konnten die Bediensteten durch den Dienstboten-Eingang hinein und in jedes Stockwerk gelangen, ohne durch den Haupteingang und die Wohnung der Eigentümer gehen zu müssen. In den Anfangsjahren, so erzählt der Architekt, war die Villa übrigens noch nicht weiß verputzt, sondern als stabiler Backsteinbau erkennbar.

Über die Aufteilung der drei Stockwerke ist später viel spekuliert worden: Wohnten die Raabs unten und schliefen in der Mitte? Waren ganz oben nur Arbeits- und Wohnzimmer der Bediensteten? Es ist anzunehmen, so schließt Jochen Weppler heute, dass die untere Etage vor allem Repräsentationszwecken diente, während die Bewohner sich bevorzugt mittig einrichteten: mit Salon, Herren- und Speisezimmer. Dazu passt auch die in den ursprünglichen Zeichnungen bereits sichtbare Badewanne am Ende des Flurs. Damals war der Flur dort noch abgeteilt: für ein Badezimmer mit Heizofen. Das Bad in dieser Wanne bot den besonderen Luxus, von dort direkt auf den Balkon über dem Haupteingang gehen zu können. Später riss man die Trennwand heraus.

Bis zu 20 Mitarbeiter um die Jahrhundertwende

Das Unternehmen mit den Pfeifen aus Horn florierte offenbar zu jener Zeit. Davon zeugen Kataloge, in denen eine Vielfalt von Pfeifen aufgeführt wird. Elf bis 20 Mitarbeiter beschäftigte der Pfeifenfabrikant laut Gewerbetagebuch von 1896 im Haus Nr. M 274, so die damalige Adresse. Indes: Die Zeit schritt voran, brachte neue Stoffe hervor. Ab 1932 verarbeitete die Fabrik auch Kunststoffe, und nach dem Zweiten Weltkrieg verlegte der Betrieb sich auf die Herstellung von Hotel-, Labor- und Druckereimobiliar. Mag die zunehmende Verdrängung der Pfeife durch die Papierzigarette bei der Umstellung eine Rolle gespielt haben?

Da hatte der ältere Sohn Otto (1885 – 1963) längst den Betrieb übernommen, nachdem Vater Ludwig 1928 mit 72 Jahren gestorben war. Sein Bruder Heinrich (1890 – 1957) war in die Landwirtschaft gegangen. „Veränderte Markbedingungen“, so formuliert es der Geschichts- und Museumsverein, stellten Otto in den fünziger Jahren vor Probleme, die schließlich in der vierten Generation seinem Sohn Wilfried (1914 – 1991) keine Zukunftsperspektive mehr boten. Als die Firma 1991 im Handelsregister gelöscht wurde, hatte die einst so erfolgreiche Pfeifenfabrik Ludwig Raab die Produktion schon seit Jahren eingestellt.

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Vielfalt für den damaligen Tabak-Genuss: Pfeifen aus der Produktion der Raab’schen Fabrik, die heute im Regionalmuseum zu sehen sind.

Seither ruhte  die Villa im Dornröschenschlaf – buchstäblich hinter einer wachsenden Hecke verborgen. 1991 kaufte ein Investor das Haus ab und begann es zu sanieren. Doch das Projekt scheiterte an seiner Weigerung, Auflagen des Denkmalschutzes zu erfüllen. Immerhin wurde dabei das Dach saniert – und diese Maßnahme dürfte das Gebäude über die mehr als 20 Jahre des Leerstands gerettet haben. Dass die Familie Bohn es nun aufkaufte und mit neuem Leben erfüllen will, erfreut übrigens nicht nur viele Alsfelder, die mit Dank reagieren. Sondern auch die letzten Enkelinnen der Raabs, von den eine in der Schweiz und eine in Wetzlar lebt – ansprechbar ist zur Zeit leider keine von ihnen.

Es sei jetzt noch ziemlich offen, was aus dem ganzen Areal wird, sagt der Architekt Weppler, sicher sei nur, dass dort kein Hotelbetrieb einziehen wird. Das Ehepaar habe eine kombinierte Nutzung im Sinn: ein bisschen gewerblich, ein bisschen Wohnen, ein bisschen kulturell. Vielleicht, so eine Idee, könnten auf dem Gelände altengerechte Wohnungen entstehen. Für die kulturelle Nutzung könnte eine Stiftung gegründet werden. Das sind bislang aber nur Idee. Die Sanierung dürfte mehrere Jahre dauern.

Bis dahin hat Jochen Weppler noch viel zu tun in der Altenburger Straße und freut sich auf die mit den Restaurierungsarbeiten einhergehenden Erkenntnisse über Bauhandwerk vor über 100 Jahren: „Wir betreiben auch intensive Bauforschung.“

Von Axel Pries

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Alles frei und alles offen: In diesem Garten stellten sich die Arbeiter 1904 zum Foto. Was nun auf dem Areal des alten Fabrikgeländes neu entsteht, ist noch nicht entschieden. Foto: aep

Ein Gedanke zu “Im Kaiserreich musste es schon ein Palais sein

  1. „Träume erfrieren, wenn niemand da ist, der sie träumen will.“ ( Rio Reiser)

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