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Kreis bereitet sich auf die "Flüchtlingswelle" vor – Gesucht werden Unterkünfte und Flüchtlingshelfer – Drei Menschen, drei Geschichten – In Neunzigern viel mehr FlüchtlingeDie großen Zahlen enthalten viele Schicksale

VOGELSBERGKREIS/ALSFELD. Fartun ali Hussein kommt aus Somalia, ebenso Ali, der Mann ihr gegenüber im Sessel. Beide hatten dort ihr Auskommen, aber nun sitzen sie im Asylbewerberheim in Alsfeld und wissen nicht, wie es weitergeht. Die schiere Angst ums Leben hat sich nach Deutschland getrieben. Sie gehören zu den 300 Asylbewerbern, die in den Heimen des Kreises untergebracht sind. Es werden mehr werden: Kommendes Jahr muss das zuständige Amt wohl 400 Menschen unterbringen und versorgen – Folge der Kriege und Krisen vor allem im Nahen Osten. Eine Herausforderung: Gesucht werden jetzt Unterkunftsmöglichkeiten und ehrenamtliche Helfer.

 „Die Aufgabe, neue Unterkunftsplätze zu besorgen, nimmt jetzt ganz viel Zeit in Anspruch.“ So formuliert das Werner Köhler, der langjährige Leiter des Amtes für soziale Sicherung, in dessen Regie die Unterbringung von Asylbewerbern fällt. Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt seit dem vergangenen Jahr stetig, besagen Statistiken aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Über 152.000 ware es bereits in diesem Jahr, und bis zu 200.000 sollen es werden. Für das kommende Jahr rechnet das Bundesamt aber sogar mit bis zu 300.000 Flüchtlingen. Die Menschen werden mit einem Berechnungsschlüssel auf die Bundesländer verteilt und über die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) in Gießen dann auf die Kommunen.

Von dort kommen die Prognosen, auf die man sich in der Vogelsberger Kreisverwaltung einrichten muss. Dort beginnt dann die Rechnerei mit  den Unterkunftplätzen, erklärt der Leiter Werner Köhler, der sich übrigens nicht mehr für die Öffentlichkeit fotografieren lässt – „zuviele Anfeindungen“. Beispiel: 120 neue Flüchtlinge werden erwartet, 50 verlassen den Kreis – dann braucht die zuständige Abteilung im Amt für soziale Sicherung 70 zusätzliche Unterkunftsplätze. „Man muss ein bisschen wie ein Hotelier planen.“ Weil die Anzahl Menschen wieder gestiegen ist, hat auch die Abteilung personell wieder zugelegt: von 1/1 auf aktuell 3/4. Heißt: Drei Verwaltungsangestellte und vier Sozialarbeiter bewältigen die Aufgabe im Kreis. Es könnten mehr werden, wenn im kommenden Jahr die 400 angekündigten Flüchtlinge den Vogelsbergkreis erreichen.

Pensionen sind gefragte Asyl-Unterkünfte

Benötigt werden auch zusätzliche Unterkünfte – aber längst nicht alle Häuser sind geeignet, erläutern Köhler und die zuständige Sachgebietsleiterin Heidrun Baß: „Wir suchen primär Unterkünfte für gemeinschaftliches Wohnen.“ Pensionen wären zum Beispiel nicht schlecht. Die werden dann brandschutztechnisch überprüft, „und die Polizei geht auch mit rein“. Stimmen die Bedingungen, winken den Betreibern Verträge über drei, vier oder fünf Jahre. Was vordergründig nach einem guten Geschäft klingt – gemessen an mancher Geschichte aus den neunziger Jahren sogar nach einem sehr lukrativen – bedeutet für die Hauseigentümer aber auch eine echte Aufgabe.

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Viel Geschichte und Frust am Tisch: Fartun Ali Hussein, Ali und Ghafari Wais im Aufenthaltsraum des Asylbewerberheims.

Denn sie müssen das Heim auch betreuen, und der Verschleiß des Gebäudes ist relativ hoch. Köhler: „Da muss ein Hausmeister bei sein – täglich! Es handelt sich um eine Art Hotelbetrieb, der profihaft betrieben werden muss.“ Es habe auch Angebote von Einzelwohnungen in Dörfern auf dem flachen Land gegeben, doch seien die weniger geeignet: Zu vereinzelt müssten die Flüchtlinge dort leben, ohne Sprachkenntnisse weitab von Ärzten, Apotheken, Kindergärten und Schulen, häufig sogar Läden – für die Betroffenen ein großers Problem. Daher werde versucht, die meisten Asylbewerber in den Städten unterzubringen.

So verfügt Alsfeld über zwei Heime in der Zeppellinstraße und in Altenburg, Lauterbach in der Kernstadt über eines, ein zweites soll hinzu kommen. In Rimlos gibt es ein Heim. In Schotten und Gemünden kamen Asylbewerber in Mehrfamiliemhäusern unter. Ein Heim in Ulrichstein wird gerade belegt.

Einbindung und soziale Betreuung ein wichtiges Thema

Die Einbindung und soziale Betreuung der Menschen sei ein wichtiges Thema, versichert Werner Köhler. Für das zuständige Amt gelte: Ein Sozialarbeiter kümmert sich um 100 Flüchtlinge. Die bringen neben ihren persönlichen Sorgen auch Probleme im Miteinander mit: Die Menschen kommen aus vielen Regionen, sprechen viele Sprachen – und stammen unter Umständen aus verfeindeten Lagern. Da braucht es mehr Betreuung, um ihnen zu helfen und Spannungen zu vermeiden. In der Lauterbacher Kreisverwaltung versuchte man an einem runden Tisch mit Kirchengemeinde und Stadt einen „Asylbewerber-Kreis“ aufzubauen. Ehrenamtliche Flüchtlingsbegleiter sollen den Menschen helfen – eine Idee mit Anklang bei Vogelsbergern. Als das evangelische Dekanat kürzlich zur Schulung einlud, kamen viel mehr Interessenten als erwartet (siehe Bericht bei Oberhessen-live). Viele haben ausländische Wurzeln und bringen begehrte Sprachkenntnisse mit.

Da freut sich der Amtsleiter Werner Köhler über einen Verein wie Pro Asyl, der seit vielen Jahren In Alsfeld Flüchtlinge betreut. „Die Betreuung und Integration ist in Alsfeld ehrenamtlich gut geregelt.“ Auch mit Hilfe der Volkshochschule übrigens, die regelmäßig Sprachkurse anbietet – eine der wichtigsten Hilfestellungen für die Asylsuchenden.

Was diese Menschen aber vor allem bedrückt, das bekommen ehrenamtliche Helfer wie der Pfarrer Walter Bernbeck erzählt. Er kümmert sich für Pro Asyl, sucht die Heime auf und bietet mit Pro Asyl im Büro der Caritas Sprechstunden an. 70 Bewohner in den beiden Alsfelder Unterkünften gehören zur Klientel der ehrenamtlichen Helfer. Es geht viel um Bürokratie: um Anträge, Widersprüche – und mitunter auch die Einschaltung eines Anwalts, um Rechte durchzusetzen. Es geht bei der Arbeit der Helfer mitunter und zunehmend um die Vermittlung in Streitfällen untereinander. Es geht aber auch um die Linderung von körperlichem und seelischen Leid, das vielen Flüchtlingen angetan wurde – vor allem den Frauen.

„Viele Frauen kommen hier an und sind richtig kaputt“

„Viele Frauen kommen hier an und sind richtig kaputt“, erzählt Walter Bernbeck. Sie waren oft jahrelang auf der Flucht gen Europa, haben sich dabei verschiedenen Männern angeschlossen. „Davon erhoffen die Frauen sich Schutz“. Manche bekamen auf dem Weg Kinder. Er habe junge Frauen in Alsfeld getroffen, so erzählt der Pfarrer, die hatten als Mädchen die Flucht irgendwo in Afrika begonnen – und kamen Jahre später mit Kind unter dem Arm in Alsfeld an. „Die Frauen habe vielfach Becken-, Blasen- und Nierenentzündungen.“

In Deutschland, in Alsfeld, angekommen erleben die Menschen dann die Realität des „gelobten Lands“: Tristesse in einer unabsehbar langen Warteschleife. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entscheidet über ihr Bleiberecht nach einer Befragung, und das kann dauern. Sehr lange. „Das Bundesamt“, so stellt sich bei einem Besuch in der Altenburger Unterkunft heraus, ist Hauptthema der Gespräche. Die Warterei auf Entscheidungen eines der Hauptprobleme – gepaart mit dem Problem, in der Zeit nicht wirklich arbeiten zu dürfen. Je nach Temperament baut sich Frust auf.

Ghafari Wais gehört zu denen mit Wut im Bauch. 21 Jahre ist er alt, kam vor zwei Jahren aus Afghanistan nach Alsfeld. Dort war er junger Schauspieler, erzählt er in nicht immer sauberem, aber verständlichem Deutsch. Er war auch ein erfolgreicher Turner – und damit begann sein Problem. Er lokaler Stammesfürst bedeutete ihm, er solle sich bei Wettbewerben zugunsten eines Konkurrenten zurückhalten, sonst bekäme er Ärger. Weil er das nicht tat, bedrohten und schlugen ihn Schergen des reichen Mannes mit dem Messer.

Hauptproblem der Asylbewerber: jahrelanges Warten in Ungewissheit

Als er sich an die Polizei wandte, bekam er den Rat: Dieser Mann sei so mächtig, er beherrsche auch Polizei und justiz, und wenn ihm sein Leben etwas wert sei, solle er besser fliehen. Das tat Ghafari Wais, erreichte schließlich Deutschland. Der junge Mann ist nun gefrustet, weil er nicht so arbeiten kann, wie er möchte. Ein paar Stunden wöchentlich bei McDonalds – mehr sei nicht drin. Ansonsten: warten auch die nächste Entscheidung vom Bundesamt. Er fühlt sich abgelehnt, lebt von der Unterstützung vom Staat und sagt: „Ich brauche kein Geld! Ich kann arbeiten!“ Immerhin: Mittlerweile besucht der 21-Jährige die Max Eyth-Schule und hofft auf einen Realschulabschluss. Eine Nachricht vor ein paar Tagen aus Pakistan untersützt übrigens seine Geschichte: Sein Bruder wurde dort getötet – wahrscheinlich von jenem Stammesfürsten, der ihn fliehen ließ. Pfarrer Bernbeck wird an der Stelle hellhörig: „Getötet? An deiner Stelle?“ Das muss unbedingt zu Papier gebracht und in dem Asylverfahren mit angegeben werden.

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Von der wachsenden Zahl bald überfordert: Walter Bernbeck (r.) gehört zu den Helfern von Pro Asyl, die versuchen, den Flüchtlingen das Leben zu erleichtern.

Fartun ali Hussein, die wie Ali aus Somalia kommt, leidet stiller. Mit ihrer kleinen Tochter Momtaz sitzt sie auf dem Sofa und lächelt. Aber was sie sagt, klingt nach dem gleichen Problem: „Immer nur essen und schlafen und wieder essen. Das ist nicht gut!“ Soviel Deutsch hat sie in dem einen Jahr und fünf Monaten in Alsfeld gelernt. Der Grund, warum sie – schwanger und Hals über Kopf – per Flieger alleine aus Mogadischu floh, klingt noch viel trauriger: akute Todesangst.

„My mother was killed without question“

Mit ihrer Mutter hatte sie im Regierungsviertel einen kleinen Laden, in dem auch Regierungsmitarbeiter gelegentlich einkauften. Davon konnten sie leben. Eines Tages seien Mitglieder der radikalislamischen Miliz al shabaab in den Laden gekommen und hätten gedroht: Sie sollten aufhören, mit der Regierung zusammen zu arbeiten. Ihre Mutter schloss den Laden aber nicht. Da kamen die Männer wieder und erschossen wortlos Mutter und Schwester von Fartun. „My mother was killed without question“. Die Botschaft an die zweite Tochter: Auch sie ist fällig. Da floh sie so schnell sie konnte, ließ zwei Kinder und den Ehemann zurück. Der versteckt sich heute im Haus von Bekannten, traut sich nicht mehr auf die Straße. Die junge Frau erzählt mit großen Augen eine Geschichte, wie sie in Deutschland gefühlsmäßig nicht nachvollzogen werden kann. Sie ist hier in Sicherheit, die Tochter in Deutschland geboren. Aber was ihre Zukunft bringt? Fartuns fragende Augen sagen: Sie weiß es nicht.

Nicht unähnlich die Geschichte von Ali aus Somalia: Auch er floh vor der Bedrohung durch die al shabaab-Miliz. Dabei habe er einen guten Job gehabt als Fahrer einer Hilfsorganisation. „I was hapy to my work“, erzählt er in gebrochenem Englisch. Das Deutsch ist nicht besser, aber es kommt rüber: Dreimal verschleppten ihn die Terrorkrieger bei seinen Fahrten, lochten ihn ein und ließen ihn erst nach Tagen wieder laufen. Dabei wurde er auch schwer misshandelt, erzählt Ali und weist auf sein linkes Bein. Das stimmt, bestätigt Walter Bernbeck: Die Narben seien ärztlich attestiert worden. Ali bekam Angst um sein Leben: „I struggled for my live“. Er stieg in ein Flugzeug nach Deutschland, erreichte schließlich vor ziemlich genau zwei Jahren Alsfeld. Und seither wartet er, dass es irgendwie weitergeht mit ihm. „I try to have peace.“ Er wartet wie alle anderen.

Drei Schicksale von vielen, die Walter Bernbeck und die anderen Mitglieder von Pro Asyl in ihrer Freizeit zu einem guten Ende bringen wollen. Aber ein umständliches bis unnahbar stures Bundesamt mache eine Arbeit nicht leichter, die durch die zunehmende Zahl Nationalitäten schon nicht leichter werde, erzählt er. Wenn jetzt noch mehr Flüchtlinge kommen. „Eigentlich sind wir an unserer Grenze angekommen.“

Köhler: in den Neunzigern waren viel mehr Asylbewerber im Kreis

Da ist Werner Köhler, der Leiter des Sozialamtes, etwas entspannter. Jetzt sei die wachsende Zahl Flüchtlinge in Deutschland erst einmal eine Herausforderung, sagt der Mann, der die Behörde seit Jahrzehnten leitet. Aber eine große Flut möchte er die aktuelle Flüchtlingszahl gar nicht nennen. Denn in den neunziger Jahren kamen viel mehr Menschen – auch in den Vogelsbergkreis: 900 Asylbewerber und 3000 Spätaussiedler waren es damals. „Die Zahlen sind jetzt gegenüber früher nicht so, dass sie uns umhauen“, meint Köhler: „wir müssen eben einen Teil der Struktur wieder neu aufbauen.“

Von Axel Pries

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