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Zum Tag der Wiedervereinigung: ein paar nachdenkliche AnmerkungenSind wir am Ende des Römischen Reiches?

Heute ist der 3. Oktober, ein Feiertag. Aber was feiern wir heute eigentlich? Na, den deutschen Nationaltag, fällt den einen vielleicht ein, die deutsche Wiedervereinigung den anderen. Den Kern dieses Feiertages treffen beide nicht. Wir feiern das Ende des Kalten Kriegs, der mit der Spaltung der Welt im Brennpunkt auch eine Spaltung Deutschlands bewirkte. Wir feiern nichts anderes als das Ende von Diktatur auf deutschem Boden – hier ganz in der Nähe. Mitten zwischen uns leben Menschen, die Willkür und Zwang noch selbst erlebt haben. Für die der Grenzzaun das Ende der zugänglichen Welt bedeutete. Auch ich habe das monströse Bauwerk noch ganz aus der Nähe gesehen – von Westen aus, beäugt von Männern auf einem Turm – und ich kann mich an die buchstäblich grenzenlose Freude erinnern, als endlich ein Loch hineingeschnitten wurde.

 

Damals, vor 25 Jahren also, hatte ich meine erste Redakteursstelle angetreten, und, wie das Schicksal wollte, befand ich mich sowohl örtlich als auch zeitlich ganz nahe an einem Brennpunkt des Weltgeschehens. Das war im August 1989 in Bad Lauterberg, einem kleinen Harzstädtchen, dessen östliche Gemarkung direkt an den Stahlgitterplatten der deutschen-deutschen Grenze endete. Wie riesig war der Jubel, als nach dem 9. November Scharen von „Brüdern und Schwestern“ aus dem Osten, begleitet von blauen Wolken ihrer Trabis, gen Westen strömten. Jede Ausflugsfahrt andersherum von West nach Ost war begleitet von winkenden Menschen in grauen DDR-Dörfern. Am Rand von Nordhausen standen Jungs, die sich einen Spaß daraus machten, im „Westauto“ mit in die Stadt genommen zu werden. Alles schien gut, nun konnte die Welt nur noch besser werden.

 

Im März 1990, war’s der 18?, war ich in Nordhausen als Reporter dabei, als die einzigen freien Wahlen in der DDR stattfanden: mit mehr Enthusiasmus als Können. Auf winzigen Taschenrechnern zählten Wahlhelfer hinter den staubblinden Fenstern des Rathauses mühselig Stimmen zusammen – und strahlten: f.r.e.i.e W.a.h.l! Endlich! Wer damals im Osten Deutschlands 60 Jahre alt war, konnte sich an dieses Fundament demokratischer Politik gar nicht erinnern, hat niemals Freiheit erlebt. Das ist jetzt schlappe 25 Jahre her – eine Zeitspanne gerade mal für ein kleines Vereinsjubiläum – und doch scheinbar unendlich weit weg. Weil, wir tun so, als ob all‘ das, was uns als Freiheit und Wohlstand umgibt, so selbstverständlich ist wie der morgendliche Sonnenaufgang.

 

Wir haben uns abgewendet von den wesentlichen Fragen und Problemen unserer Gesellschaft. Politik – die Bühne dieser Auseinandersetzung – ist zum Synonym für „die da oben“ geworden. Für etwas, das uns scheinbar nichts angeht, weshalb hier unten die Wahlbeteiligung stetig abnimmt. „Wahlverdrossenheit“ ist geradezu salonfähig geworden. Wir haben Besseres vor. Ganz vorne: Konsum. Dann: fruchtlose bis hysterische Gender- und Gesundheits-Nabelschau, die ewige Hatz auf vermeintliche Problemgruppen wie Raucher, Dickleibige und Bewegungsmuffel als gesellschaftliche Übersprungshandlung, für eigentliche Probleme, die wir nicht angehen, weil sie viel schwieriger sind. Dass der Neoliberalismus uns ein Millionenheer verarmter Rentner bescheren wird zum Beispiel – zusätzlich zu einem Phänomen, das wir früher vor allem den USA zuschoben: den working poor, Armut mit Arbeit. Dass der Klimawandel uns alle und vor allem jüngere Generationen mit bereits spürbaren Auswirkungen bedroht. Dass wir uns gesellschaftliche Leistungen wie gute Kinderbetreuung nur mit einer funktionierenden Mittelschicht leisten können. Letztlich, dass unsere heute gefeierte Demokratie gar nicht so selbstverständlich ist, wie sie scheint, weil es dazu aktiver Demokraten bedarf. Ebenso wenig wie Frieden und Freiheit, da muss man doch nur einmal auf die Weltkarte der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen schauen, um zu sehen, wie schnell Staaten kippen können, wie nahe Krieg wieder gerückt ist. Die Ukraine ist nur eine Bomberflugstunde entfernt, auf dem Balkan halten noch heute Truppen mit UN-Mandat einen brüchigen Frieden.

 

Tatsächlich wird unsere Demokratie gleich von zwei Seiten bedroht: von einer Art wirtschaftshöriger Autokratie in den Konferenzsälen westlicher Staatenbündnisse. Bedroht wird die Demokratie aber auch von einer Gesellschaft, die sich für Smartphone-Tarife und soziale Internet-Netzwerke mehr interessiert als für ihre real existierende Umgebung. Die Einser-Abiturienten hervorbringt wie jenen jungen Mann aus Alsfeld, der nicht wusste, dass Thüringen mehr ist als eine Bratwurst. Eine Gesellschaft, für die ernsthaft eine Nachricht ist, wenn Apple ein neues Spielzeug herausbringt und dass das iPhone 6 sich verbiegen lässt. Die sich außer dem aktuellen System des Maximalmaterialismus gar nichts anderes vorstellen kann, und um es zu erhalten, immer mehr schuftet.

 

Wir wundern uns, dass Jugend so wunderbar lieb und angepasst ist, statt wie einst von den Alten Veränderungen zu fordern. Das ist kein Wunder: Wie sie zu funktionieren haben, bekommt die zu Egozentrik erzogene, von Leistungsdruck und Konsumwillen disziplinierte Generation junger Leute spätestens in den Wirtschaftsfächern der Schulen von klein auf eingetrichtert: Aktien statt Alternative. Wir wollen Energiewende – und bekämpfen die Umsetzung wie weiland jedes Atomkraftwerk „Das Volk sieht derweil fern“, beklagte Herbert Grönemeyer schon in den achtziger Jahren gesellschaftliches Desinteresse an Politik. Lieber Herbert, wenn du damals gewusst hättest, wie viel Ablenkung noch kommen wird!

 

25 Jahre nach dem Mauerfall, dem Ende des Kalten Krieges, ist das eine oder andere tatsächlich besser geworden – mehr Gleichheit unter den Geschlechtern, gewachsene Toleranz, gewaltfreie Erziehung als Beispiele – der große Wurf, von dem wir am 3. Oktober 1990 träumten, ist aber auf keinen Fall gelungen. Es gibt nicht weniger, sondern mehr Kriege. Es gibt nicht weniger, sondern mehr Nationalismus und Extremismus in der Welt – Reaktion auf eine menschenverachtende Globalisierung? Der Weltkrieg um die letzten auszubeutenden Ressourcen ist in vollem Gange – noch sind wir auf der Gewinnerseite. Die Opfer, die Flüchtlinge, sollten uns zu etwas mahnen, was wir völlig verlernt haben: Solidarität. Und wenn wir nicht aufpassen, ist unsere eigene Freiheit das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt steht, weil wir unabhängig von dem, was auf dem Stimmzettel steht, doch nur die gleichen Götzen anbeten. Uns alternativlos regieren lassen. Wenn wir denn überhaupt wählen gehen.

 

So sei es im Römischen Reich doch auch gewesen, sagte neulich ein Mann zu mir, den ich nicht zu den Dümmsten zählen würde: eingegangen an schierer Dekadenz. Ein Schwarzseher? 25 Jahre nach dem Mauerfall, 24 Jahre nach der Wiedervereinigung – ist abwärts die unabwendbare Richtung für uns?

Axel Pries

2 Gedanken zu “Sind wir am Ende des Römischen Reiches?

  1. Altbekannte Sätze:
    1. Der Klügere gibt nach, deshalb regieren die Dummen die Welt.
    2. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.

  2. Ein Rundumschlag, vom 3. Oktober bis zum Weltfrieden. Zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, der Schlag trifft überall ins Schwarze und die Gesellschaft schaut zu.
    Es kommt noch schlimmer, der Autor hält uns den Spiegel vor und sagt uns: Die Gesellschaft sind WIR selbst.
    Heute am 5. Oktober und nach mehrmaligem lesen des Artikels frage ich mich: Was können wir tun? Der Autor gibt uns auch hier eine Antwort.
    „Nicht denen da oben die politische Bühne überlassen“ !!!!!
    Ein Artikel der uns zum Denken veranlassen sollte.

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