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Erlösung nach Horroraufenthalt mit Unfall in Kaliningrad – OP im Kreiskrankenhaus

„Ich wäre mit dem Ballon zurück geflogen“

VOGELSBERGKREIS (kiri). Sie wollte auf den Spuren ihres Vaters wandeln, dass hatte sie sich schon als Achtjährige vorgenommen. Als sie 67 Jahre später endlich die Gelegenheit dazu hatte, tauchte sie emotional tiefer in die Vergangenheit des Vaters ein, als es ihr lieb war. Irmhild Seim fand sich plötzlich in einem Kaliningrader Krankenhaus wieder, dass in den Vor-20er-Jahren stehen geblieben war. „Mindestens so schlecht muss sich damals mein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft gefühlt haben!“

Die Heidelbacherin hatte als junges Mädchen an den Lippen ihres Vaters gehangen, wenn er von seiner Zeit in Ostpreußen erzählt hat – vom Zeltlager, vom Schwimmen im Frischen Haff und von den Begegnungen mit der russischen Bevölkerung. Für sie stand fest: Da will ich mal hin!

Ihre Kinder sind inzwischen erwachsen, die Grenzen offen, sie und ihr Mann Dieter haben im Ruhestand Zeit zu reisen und glücklicherweise auch noch die Gesundheit dazu. So buchten sie sofort, als sie das Reiseangebot einer Kasseler Reisegesellschaft sahen, die eine geführte Busfahrt nach Ostpreußen anbot. „Am 2. September ging es los“, erinnert sich Dieter Seim. „Der ganze Bus war voller Leute, die eine Verbundenheit zu und ein Stück Vergangenheit in Kaliningrad hatten.“ Nach einer Übernachtung im polnischen Posen und dem Zustieg einer Dolmetscherin an der russischen Grenze, kam die Reisegesellschaft nach zweitägiger Busfahrt in Kaliningrad an.

Eingecheckt, kurz ausgeruht und in den Speisesaal zum Abendessen. „Kurz nach 21 Uhr wollten wir wieder hoch auf unser Zimmer, wir waren müde von der langen Fahrt.“ Doch bis zum erholsamen Bett kamen sie nicht. Der Aufzug brachte sie in den fünften Stock, sie stiegen aus, öffneten die Tür vom Zwischenflur zum Hauptflur, der zu den Zimmern führte und – „Peng!“ – da war es passiert: Irmhild war über eine Messingleiste gestolpert, die als Türanschlag für die Zwischentür diente und fünf Zentimeter hoch war – im schlecht beleuchteten Flur kaum sichtbar. Doch dem nicht genug. Hinter der Leiste war der Fußboden noch ein paar Zentimeter tiefer, so stolperte die rüstige Rentnerin nicht nur über den Anschlag sondern trat beim Versuch sich aufzufangen auch noch ins Leere und flog der Länge nach hin.

„Ich hatte gleich starke Schmerzen“, erinnert sie sich. Ihr Mann, der ihr zu Hilfe geeilt war und ihr aufhelfen wollte, sah es sofort: „Der Fuß stand unnatürlich nach innen gedreht!“. Mühsam schaffte er es, seine Frau ins Zimmer und auf das Bett zu bringen. Von dort aus meldete er es der Rezeption, die riefen die Dolmetscherin an, die kam und benachrichtigte sofort das Krankenhaus. Eineinhalb Stunden später war Irmhild Seim stationär aufgenommen und bekam die ersten Schmerzmittel. Zwar vom Schmerz erlöst, fand sie sich aber in einem Albtraum wieder: „Es war furchtbar, das Krankenhaus war in einem miserablen Zustand.“ Statt in einem riesigen Mehrbettzimmer brachten die Schwestern sie in einem umfunktionierten „Einzelzimmer“ unter, dass von oben bis unten komplett gefliest war. Die Betten waren aus den 20er Jahren und verrostet, Essen gab es aus einer Blechschüssel mit einem Löffel, Getränke nur aus einer Blechtasse, die während des Krankenhausaufenthalt nicht gewechselt oder gesäubert wurde. „Es gab kein Toilettenpapier und ich habe während des ganzen Aufenthaltes kein Wasser gesehen, ich konnte mich nicht waschen!“, erzählt Irmhild Seim noch immer völlig schockiert. Und ihr Mann ergänzt: „Das waren Zustände, wie man sie aus den Filmen über den Ersten Weltkrieg kennt.“

Glücklicherweise war die medizinische Versorgung gut. Die Schmerzmittel halfen, die Diagnostik war entsprechend und eindeutig: Der Oberschenkelhalskopf war gebrochen und zudem noch verschoben. „Ich möchte hier nicht operiert werden, bring mich hier raus!“, flehte die Patienten ihren Mann an und hatte auch gleich eine Idee: „Ruf Manfred Hasemann an!“ Schon einmal hatte der Geschäftsführer des DRK-Kreisverbandes Alsfeld dem Ehepaar geholfen, als Dieter Seim mit einer Salmonellenvergiftung in Danzig lag.

Wie von dem erfahren DRK-Geschäftsführer erwartet, setzte er alle Hebel in Bewegung, um einen Rücktransport für Irmhild und Dieter Seim zu organisieren – er besorgte Visa, forderte den DRK-Flugdienst an, klärte die medizinische Notwendigkeit mit den russischen Ärzten und erledigte die geforderten Formalitäten. Auch Dieter Seim war nicht untätig. Zusammen mit „Tamara“, einer ihm zur Seite gestellten Dolmetscherin, war er eineinhalb Tage in Kaliningrad unterwegs, um vor Ort alles in die Wege zu leiten. Und er schaffte es: Freitagvormittag – zwei Tage nach dem Unfall – kam die erlösende Nachricht: „Es geht nach Hause!“

Manfred Hasemann hatte es bewerkstelligt: Eine Propeller-Maschine aus München hatte das Visum, um nach Kaliningrad zu fliegen. Diese wartete Freitagmittag am Kaliningrader Flugplatz auf Irmhild und Dieter Seim. Das Ehepaar saß derweil noch nervös im Erste-Hilfe-Krankenhaus BSMP und wartete auf das Russische Rote Kreuz, das die zwei Heidelbacher zum Flughafen transportieren sollte. „Ich hatte schreckliche Angst, dass es nicht klappt und sie nicht kommen“, erinnert sich Irmhild Seim und ihr Mann ergänzt: „Ich fragte schon im Krankenhaus nach, ob sie uns nicht mit einem von ihren Autos fahren könnten… doch konnten sie nicht, denn das Krankenhaus hat kein Fahrzeug.“

Mit einstündiger Verspätung kam das Russische Rote Kreuz – mit einem ursprünglich deutschen Krankenwagen, der durch die Kooperation mit dem Alsfelder Kreisverband vor etlichen Jahren nach Ostpreußen exportiert wurde – um die Patientin inklusive Gatten zum Rettungsflugzeug zu bringen. „Von mir fiel eine Last ab, es war eine Erlösung. Vorher hatte mein Herz bis zum Kopf geschlagen, doch jetzt war ich einfach nur erleichtert dort raus zukommen…. da waren mir auch die Schmerzen während der Fahrt völlig gleichgültig.“

Knapp zwei Stunden dauerte der Flug von Kaliningrad nach Kassel/Calden. Dort wurde das Ehepaar von zwei ehrenamtlichen Mitarbeitern des Alsfelder DRKs und Manfred Hasemann in Empfang genommen. Eine Stunde später – knapp 48 Stunden nach dem Unfall im Hotelflur – wurde Irmhild Seim in ihrem „Heimatkrankenhaus“, dem Alsfelder Kreiskrankenhaus, aufgenommen. Die Diagnose bestätigte sich: Verschobener Oberschenkelhalsbruch, eine OP war unabdingbar. „Dr. Öztürk wollte eigentlich noch gleich am Abend operieren, aber es kam ein Notfall dazwischen, so dass die OP erst am nächsten Morgen stattfinden konnte“, erzählt Dieter Seim, der große Stücke auf den Alsfelder Unfallchirurgen hält.

 

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