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Ice Bucket Challenge: nur Quatsch in der Gaga-Gesellschaft oder neues Signal?Ein Eimer Eiswasser als Botschaft der Neuzeit

ALSFELD. Zunächst einmal dürfen Sie sich entspannen: Hier passiert jetzt nicht, wonach es aussieht. Ich werde mir weder diesen mutmaßlich mit Eiswasser gefüllten Eimer über den Kopf kippen, noch mich da hinein übergeben, weil die Eiswasser-Dusche als virulentes Gesellschaftsspiel mir übel aufstößt. Der Eimer steht nur auf meinem Schreibtisch, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Und offensichtlich: Es hat geklappt. Ja, es geht um die Ice Bucket Challenge. Ich frage mich nämlich: Ist das alberner Quatsch – oder moderne Möglichkeit, in einer an Signalen völlig übersättigten Gesellschaft, noch Botschaften zu vermitteln?

Das fiel mir heute Morgen ein, als ich bei der üblichen Lektüre von Online-News irgendwann auch Facebook öffnete – und staunte. Über Nacht war aus dem vereinzelten Promi-Auftritt mit Eimer eine wahre Eis-Lawine geworden. Bei Helene Fischer – deren Video-Auftritt sogar seriöse Radiosender beschäftigte – hatte ich die Eis-Dusche vor Tagen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen (Ja,ja, warum wohl?). Dann schmunzelte ich tatsächlich über den Einfall von Bastian Schweinsteiger, aus dem Ritual des „Wasser-über-dem-Kopf-Ausschüttens“ eine kleine Story zu machen und lachte herzlich über Stan Laurel und Oliver Hardy, deren Schwarz-Weiß-Film beweist, dass sie’s schon vor 70 Jahren erfunden haben. Gut. Scheint eine schicke Promi-Aktion zu sein. Wohl in der Nachfolge der Coldwater-Challenge, die im Winter auch in der Region Vereine bewegte.

Eine Eiswasser-Lawine im Internet

Denkste: Es dauerte nicht einmal 24 Stunden, bis die gegenseitigen Nominierungen der Ice Bucket Challenge im Vogelsberg um sich griffen, und mehr und mehr Facebook-Freunde sich wie auch immer kaltes Wasser über den Kopf kippten. Facebook scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen, denn immerhin muss dafür ein kleines Video produziert und gezeigt werden. Da wird dann flott was von Nominierung in die Kamera gesprochen und noch schneller Wasser gekippt – mitunter sogar ein bisschen lustig.

Heute morgen war meine Zeitleiste bei Facebook randvoll mit Ice Bucket-Kandidaten im Alter von 16 bis 45. Es wird gestammelt und geschüttet und gequiekt – aber leider meist der Anlass der ganzen Aktion vergessen. Das ist denn auch Anlass für manche Kritik an der offenbar im ganzen Westen virulenten Ice Bucket Challenge: Der gute Zweck, der ernste Hintergrund, scheint im Klamauk verloren zu gehen. Die Spendenbereitschaft werde fehlgeleitet, warnt auch die Süddeutsche Zeitung  Ich frage mich: Stimmt das oder kommt da nur wieder typisch deutsch der moralinsaure Zeigefinger hoch, der einmal mehr bierernst mahnt: Ernsthaften Charakter kann nur haben, was ernsthaft betrieben wird! Mit ordnungsgemäß angemeldetem Info-Stand, informativem Flyer und wahnsinnig viel professionellem Werbeaufwand?

In den USA immerhin 70 Millionen Dollar

Es geht um die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, für deren Erforschung über die Challenge gespendet werden soll. Das ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, erklärt Wikipedia, und ich wette, wenigstens 99 Prozent der Menschen haben vorher noch nie etwas von dieser Erkrankung gehört. Jetzt wissen wahrscheinlich zehnmal so viele Leute immerhin, dass es ALS gibt – und wohlmöglich haben viele auch gespendet. In  den USA sollen über die Ice Bucket Challenge bislang immerhin 70 Millionen Dollar zusammen gekommen sein – nach Ansicht der Kritiker immer noch ein lächerlicher Betrag. In Deutschland ist die Summe bislang unbekannt.

Aber ist das Ergebnis wirklich lächerlich? Tatsächlich werden im Gesundheitswesen bei bestimmten Krankheiten weit höhere Summen bewegt. Tatsächlich entlocken manche Missstände den reichen Westlern weit mehr Geld als die Ice Bucket Challenge vermag. Der drohende Hungertod von Millionen Menschen in Nordafrika war so ein Hilferuf, der ankam. Der Tsunami, der im indischen Ozean 200.000 Menschenleben forderte. AIDS, Leukämie, zumal bei Kindern, sind Spenden-Magneten. Aber schon die Herz-Erkrankungen von Kindern werden weniger beachtet, haben kleinere Spendentöpfe zur Veffügung. Und die Amyotrophe Lateralsklerose – eine weltweit auftretende, aber seltene Krankheit? Von 100.000 Menschen erkranken pro Jahr etwa ein bis drei neu an ALS, sagt Wikipedia. Für die ist ALS unheilbar, nur hat das bislang kaum jemand bemerkt.

Eine Spenden-Sammlung der modernen Art?

Aus beiden Gründen wird offenbar seitens der medizinischen Forschung auch nicht viel Geld in ALS gesteckt – so wie es auch bei anderen, wirtschaftlich unlukrativen Erkrankungen der Fall ist. Die Ice Bucket Challenge hat jetzt immerhin eines geschafft: Über ALS wird gesprochen – und es kommt Geld zusammen, wo vorher keines war; das auch noch mit einem Lächeln und finanziell wenig Aufwand – moderne Formen der Verbreitung nutzend. Ist das vielleicht eine Erfolgsgeschichte, die vielleicht sogar Nachfolger finden sollte? Oder wirklich nur unseriöse Selbstinszenierung?

Axel Pries

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