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Zwei Vogelsbergerinnen berichten über ihr Leben in IndienWo Frauen wenig wert sind

LAUTERBACH. Die Bilder der Proteste auf Indiens Straßen nach der Vergewaltigung einer Studentin durch mehrere Männer gingen vergangenes Jahr um die Welt. Begleitet von der Frage: Welchen Wert hat das Leben einer Frau in dem Land? Clarissa Schwarzer und Anuradha Noell, zwei junge Frauen aus dem Vogelsberg, können die Frage aus eigener Erfahrung beantworten. Warum die beiden so schnell nicht wieder in einem Flieger nach Indien sitzen werden.

Mit der Geburt ihres Sohnes dürfe von Leela Moozhiyil eine große Last gefallen sein. Obwohl sie bereits zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, akzeptieren sie die Frauen in ihrem Dorf nicht als Mutter. „Du hast ja gar keine Kinder“, bekam sie auf der Straße gesagt. Der Grund: Sie hatte zwei Töchter. Eine davon ist Anuradha Noell, 35, Psychologin und wohnt in Alsfeld. Als sie zehn Jahre alt war ging sie mit ihrer indisch-stämmigen Familie zurück in ihr Heimatland. Anfang der 2000er-Jahre kehrte Anuradha Noell zum Studium nach Deutschland zurück. Und blieb.

Jungen haben in vielen Dingen bessere Karten

Plötzlich für sein Umfeld weniger Wert zu sein, nur weil man ein Mädchen ist, das sei für sie das schlimmste gewesen, sagt Anuradha Noell, die Indien damals nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannte. Jungen bekommen in Indien in der Regel besseres Essen, bessere Bildung und bessere medizinische Versorgung als ihre weiblichen Geschwister. Doch vor allem ärmere Familien würden diese Denke mancherorts über Bord schmeißen. Anuradha Noell versichert, auch ihre Mutter habe sie nicht mehr und nicht weniger lieb gehabt als ihren jüngeren Bruder. Egal was die Frauen auf der Straße sagten.

240 Menschen waren am Freitagabend in die Aula der Sparkasse Oberhessen in Lauterbach gekommen, um mehr über die Rolle der Frau in Indien zu erfahren. Geladen hat der örtliche Soroptimist-Club, eine Vereinigung berufstätiger Frauen, die über gesellschaftliche Themen diskutieren. Anuradha Noell war neben Clarissa Schwarzer als Referentin dort.

Berichteten über ihre Erfahrungen aus Indien: Die Lauterbacher Schülerin Clarissa Schwarzer und die Alsfelderin Anuradha Noell.

Berichteten über ihre Erfahrungen aus Indien: Die Lauterbacher Schülerin Clarissa Schwarzer und die Alsfelderin Anuradha Noell.

Ihr schulterlanges schwarzes Haar trägt sie offen über dem dunklen Business-dress, als sie selbstbewusst auf der Bühne über das Land ihrer Vorfahren berichtet.  Damit ist sie nicht gerade das, was sich die Mehrheit der indischen Männer als Ehefrau wünscht. „Indische Männer wollen Frauen, die gehorchen“, sagt Anuradha Noell. Sie habe nie gelernt, ihre eigene Persönlichkeit zu reflektieren, sich über sich selbst Gedanken zu machen. Nur langsam brächen alte Strukturen und Denkmuster auf, trauten sich Frauen für ihre Rechte einzustehen, sich zu wehren und auf der Straße Jeans zu tragen. „Die Frauen sind so angepasst, die hinterfragen nichts“, sagt die Mutter einer kleinen Tochter.

Eine Beobachtung, die Clarissa Schwarzer bestätigen kann. Die 18-Jährige Lauterbacherin verbrachte ein Auslandsjahr in Indien. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht der vergewaltigten Studentin die Welt erschütterte. Ihre Austauscheltern hätten die Geschehnisse geschockt am Fernseher verfolgt. Und ihre leiblichen Eltern zu Hause in Deutschland? „Wir dachten, wir fahren hin und holen sie da raus. Wir hatten Angst um unserer Kind“, sagt Mama Simone Schwarzer.

Abneigung gegen indische Männer

Stets habe sie das Haus nur mit dickem Schal im Gesicht verlassen, berichtet Clarissa. Aus Angst vor Übergriffen. Dennoch sei sie mehrfach angestarrt und sogar verfolgt worden. Selbst einer ihrer Gastväter habe Anspielungen gemacht, die sich eigentlich nicht gehörten. Clarissa ist begeistert von Indien. Von dem „Land der Religionen“, mit seiner Vielzahl an Ethnien und kulturellen Färbungen. Doch etwas negatives hat sich fest ihn ihr Gedächtnis eingebrannt.  „Ich habe eine Abneigung gegen indische Männer entwickelt“, sagt Clarissa heute.

So schnell wird Clarissa Schwarzer wohl nicht wieder in einem Flieger nach Indien sitzen. Das Land ist ihr zu gefährlich. Anuradha Noell will schon über kurz oder lang wieder nach Indien reisen, aber vielleicht erst mal ohne ihre kleine Tochter. „Indien braucht den sanften Tourismus“, sagt sie.

Von Juri Auel

 

 

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