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Investigativer Journalist und Buchautor sprach über Leben und WirkenGünter Wallraff: „Ohne Bücher würde ich vereinsamen“

LAUTERBACH (cdl). Prekäre Arbeitsverhältnisse aufzudecken und für bessere Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor zu sorgen, hat sich der bekannte Journalist Günter Wallraff zur Lebensaufgabe gemacht. „Aus der schönen neuen Welt“ der Arbeit berichtete er im Rahmen der Reihe „Der Vulkan lässt lesen“ am Montagabend in der Aula der Sparkasse Oberhessen.

Im persönlichen Gespräch nach knapp drei Stunden auf der Bühne und einer längeren Autogrammstunde beantwortete der investigative Journalist noch einige Fragen. Etwa ob es heute schwieriger geworden ist, gesellschaftliche Missstände aufzudecken? „Investigativer Journalismus war immer schon schwierig. Das Problem heute ist, dass immer weniger Mittel zur Verfügung gestellt werden. Selbst bei Zeit und Spiegel ist das so, es sei denn, die Journalisten haben sich vorher einen Namen gemacht“, so Wallraff. DDaher habe er selbst ein Stipendium für Jüngere ins Leben gerufen, um investigativen Journalismus im Kleinen zu fördern.

Ob er damit Zeitungsjournalismus nach dem amerikanischen Modell meine, wo groß Stiftungen hinter den Zeitungen stehen und für genügend Freiraum sorgen? „Man sollte sogar nach dem schwedischen Modell öffentlich-rechtliche Zeitungen zu genau diesem Zweck ins Leben rufen“, antwortete der 74-Jährige. Sind bei der Recherche sämtliche Tricks erlaubt, also heiligt der Zweck die Mittel? „Nein, nicht aus Prinzip. Es geht um Rechtsgüterabwägung. Man muss immer neu entscheiden, ob es ein gravierendes Unrecht ist“, erklärte Wallraff. Wenn jemand einen enormen Schaden erleide, sei im Gegenzug eine geringfügige Rechtsübertretung vertretbar, um dem Verursacher auf die Schliche zu kommen. Als Schwächerer dürfe man sich dem Stärkeren gegenüber wehren, aber niemals umgekehrt.

Wallraff

Kurzes Gespräch nach der Autogrammstunde.

Verbesserung der Arbeitsbedingungen wichtiger als Veröffentlichung einer Reportage

Dass Wallraff sich in den vergangenen 40 Jahren einen Namen gemacht hat, war nicht zuletzt am großen Besucherandrang zu sehen. Die Aula der Sparkasse Oberhessen war bis auf den letzten Platz gefüllt und er erntete immer wieder viel Applaus vom Publikum für seine Ausführungen. Gerlinde Becker von der Buchhandlung Lesezeichen war erstmals mit auf der Bühne, um Wallraff in einem lockeren Gespräch in der ersten Hälfte aus seinem Leben und seinem Wirken erzählen zu lassen. So erfuhren die Zuschauer, dass Wallraff, bis er bekannt wurde, zuvor noch unter richtigem Namen hatte arbeiten können, bevor er sich andere Identitäten suchen musste, um nicht erkannt zu werden.

Dabei sei er immer als der Böse hingestellt worden, wenn er etwas aufgedeckt hatte, denn er habe sich ja schließlich eingeschlichen. Er selbst stamme aus schlichten Verhältnissen und setze sich daher für den unteren Rand der Gesellschaft ein. Das tue er auch, um den Kontakt nicht zu verlieren. Wichtiger sei ihm den Menschen helfen zu können, als eine Reportage zu veröffentlichen. Wenn er bei einer Recherche erfolg habe und sich die Arbeitsbedingungen umgehend besserten, verzichte er auf eine Veröffentlichung. „Wir können gerne ruhig lange Reden, den Rest können Sie schließlich in meinen Büchern lesen“, freute sich der Autor über die Unterhaltung.

Wallraff

Gerlinde Becker stellte Günter Wallfraff einige Frage die er ausführlich beantwortete.

„Lex Wallraff“ nach Recherchen hinter den Kulissen der Bild-Zeitung

Große Bekanntheit erlangte Wallraff in den 70er Jahren, nachdem er sich bei der Bild-Zeitung eingeschlichen hatte. Er habe zeigen wollen, wie sich dort systematisch Opfer gesucht werden und durch die Berichterstattung bis in den Selbstmord getrieben wurden. Heinrich Böll habe dabei eine große Rolle gespielt und sei mitentscheidend gewesen, diesen Schritt zu wagen. Die Bild hatte in den 70er Jahren eine beispiellose Hetzkampagne gegen den Literaturnobelpreisträger geführt, woraufhin Böll „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ schrieb. „Wer etwas Verstand hat, sollte dieses Blatt nicht lesen“, ergänzte Wallraff.

„Das war die schmutzigste Rolle in meinen Leben. Es war wie eine freiwillige Gehirnwäsche“, so Wallraff. Seine Gesundheit habe er sich bei Thyssen ruiniert, aber seine Psyche bei der Bild. Der Anwalt des Springer Konzerns habe dann den Tatbestand der Einschleichung erfunden, den es gar nicht gebe. Glücklicherweise habe die hohe Auflage seiner Bücher die Prozesse finanziert. Vor einem Gericht in Hamburg sei er zunächst gescheitert, habe aber schließlich in höheren Instanzen Recht bekommen. Dabei sei schließlich das sogenannte „Lex Wallraff“ herausgekommen, worauf er stolz sei, weil es den Spielraum für andere Kollegen erweitert habe. Jedoch gebe es Tendenzen das „Lex Wallraff“ zunichtezumachen. Vor einem Hamburger Gericht habe er sich kürzlich an die Prozesse mit der Bild-Zeitung erinnert gefühlt. Allerdings sei er zuversichtlich beim Bundesgerichtshof und beim Verfassungsgericht erfolgreich zu sein.

Trotz harscher Kritik am Boulevardblatt fand er am Ende versöhnliche Töne. Man müsse dem Blatt zugestehen, dass es sich abgemildert habe. Außerdem habe ihm Kai Diekmann Unterstützung bei der Aufklärungsarbeit versprochen. Ende der 70er Jahre sei er von der Bild-Zeitung mithilfe des BND abgehört worden und das komme jetzt nach und nach auf den Tisch. „Hass kenne ich nicht, der geht mir ab, was ist das“, so Wallraff.

In der voll besetzten Aula erntete Wallraff viel Zustimmung.

Die Soziale Marktwirtschaft gibt es nicht mehr

Wallraff warnte eindringlich vor amerikanischen Beschäftigungsverhältnissen am Beispiel eines großen Onlinehändlers. „Amazon ist eine Sekte, wenn das sich durchsetzt, krempelt das eine ganze Gesellschaft um.“ Alle zwei Jahre werde die komplette Belegschaft getauscht, um Subventionen zu erhalten. Im Gegensatz zu anderen Unternehmen habe Amazon aber auf Prozesse gegen ihn verzichtet. Sie wüssten, dass das nur mehr Öffentlichkeit erzeuge. Wallraff nutzte die Gelegenheit, für die Buchhandlung um die Ecke zu werben. „Ich würde ohne Bücher vereinsamen, mein ganzes Haus ist voller Bücher“, so der bald 75-Jährige. Darüber hinaus zeigte er prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Gesundheitswesen oder bei Paketdiensten auf. Einen kurzen Filmausschnitt zum Arbeitsalltag bei einem Paketdienst hatte er gleich mitgebracht.

Ebenso ging er mit der Arbeitgeberseite hart ins Gericht. Es habe sich eine Art neues Kastensystem mit Parallelgesellschaften gebildet. Aussagen wie „in Deutschland gibt es keine Armen, ich habe noch keine gesehen“, machten ihn fassungslos. Das zeige aber wie weit die Gesellschaft auseinandergerückt sei. Am Beispiel eines Arbeitgeberanwalts, der darauf spezialisiert ist unliebsame Mitarbeiter zur Kündigung zu treiben, machte er deutlich, wie skrupellos einige Menschen vorgehen. Mit Detektiven und jede Menge Schikane würde den Unliebsamen zu Leibe gerückt. Diesen Arbeitgeberanwälten müsse man das Handwerk legen und ihre Methoden öffentlich machen, so wie er es im Fall Naujoks getan habe.

Generell sei zu beobachten, dass bis in die 90er Jahre die Soziale Markwirtschaft funktioniert habe. In den vergangenen Jahren habe sich vieles hin zum Neofeudalismus bewegt. Auch mit einigen Politikern rechnete Wallraff ab. Insbesondere Clement habe sich nach seiner politischen Karriere aufgrund seiner vorherigen arbeitnehmerfeindlichen Politik später durch Aufsichtsratposten in den entsprechenden Lobbys bereichert. Das gelte auch für Schröder, Koch und weitere, was zur Politikverdrossenheit führe. Jedoch habe er auch andere Politiker in jeder Partei kennengelernt. Beispielsweise Norbert Blühm, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder auch Martin Schulz, den er persönlich kürzlich kennengelernt habe.

Wallraff

Wallraff warnte vor sich drastisch ändernden Verhältnissen und hatte viel Zahlenmaterial mitgebracht.

Weltweit viele Beispiele für unabhängigen, investigativen Journalismus

Ebenso kritisierte Wallraff die Beamtenmentalität der Anwälte bei den öffentlich rechtlichen Sendern. Diese hätten bereits im Vorfeld seiner Recherchen abgewiegelt. Das sei bei RTL nicht der Fall. Dort sei man bereit bis in die höchsten Distanzen für ihn zu gehen, obwohl das enorm viel Geld koste. Hier könne er auch mit jüngeren Kollegen Arbeiten und diesen eine Chance bieten. Generell hob er weltweit einige jüngere Kollegen hervor, die sich teilweise sogar in Lebensgefahr brächten, um etwa in Mexiko über Frauen- und Drogenhandel oder in Ghana über jedwede Korruption Kindersoldaten und Weiteres zu recherchieren. In Deutschland gebe es eine junge Kollegin, die im Bereich Gesundheit und Pflege beharrlich eklatanten Missstände aufdecke. In Schweden und Norwegen habe sich gar der Begriff „Wallraffing“ für investigativen Journalismus durchgesetzt.

Gegen Ende seines Vortrages startete Wallraff noch einen Spendenaufruf für die derzeit 150 in der Türkei inhaftierten Journalisten. Es sei gut, dass in Deutschland über Deniz Yücel berichtet werde. Jedoch werde er Ahemd Sik für einen Preis für kritischen Journalismus vorschlagen. Sik habe vor Jahren ein äußerst kritisches Buch über die Gülen-Bewegung geschrieben und sei damals verhaftet worden. Jetzt sei Sik erneut verhaftet worden mit dem Vorwurf, dass er Mitglied der Gülen-Bewegung sei. Das sei grotesk und zeige die derzeitigen Verhältnisse in der Türkei. Wallraff wollte die Spende der Gäste verdoppeln. „Bitte werfen sie keine 500 Euro ein, das kann ich mir dann doch nicht leisten“, scherzte Wallraff. Insgesamt 606,78 Euro kamen zusammen, die Wallraff dann noch verdoppelte.

Die Kulisse wurde kurzerhand als Spendenbox umfunktioniert.

 

 

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