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Kolumne "Rike's Report" am Samstag: Trotz Liebe zur Heimat - Das Fernweh schreit!Stadt, Land, Fluss – Spree, Lahn, Jossa?

Idyllische Waldwege, menschenleere Gassen bei Mondenschein, Tiere in freier Wildbahn – wer möchte, kann dem Leben auf dem Land so einiges Positives abgewinnen. Frische Milch vom Landwirt nebenan zum Beispiel. Und ein Gemeinschaftsgefühl, das – im Besten Fall – seinesgleichen sucht. Und doch ertönt weit entfernt der Ruf des Großstadtdschungels und stört die Stille: Pulsierende Meuten, die sich die Nächte um die Ohren schlagen, Sex-and-the-City-Feeling, wohin man schaut. Doch auch: Kultur. Und hin und wieder einen Cosmopolitan an der Stadtstrandbar.

Ich mag es, auf dem Dorf zu Besuch zu sein. Für meine Kindheit war es wohl der beste Ort, den man sich hätte wünschen können: Die Freunde eine Haustür oder ein paar Radminuten entfernt, den Wald vor der Nase und die Straße im Sommer stets frei für Barfuß-Badminton-Turniere á la Olympia. Ein schönes Plätzchen, dieses Dorf – oder auch sehr kleine Miniaturausgabe einer Stadt, wie es sich dank vieler Einwohner und zahlreicher Jahre Wartezeit nennen darf.

Dagegen spricht lediglich der stechende Geruch von Urin und anderen Ausscheidungen, wenn die Zeit der Gülle wieder mal vor der Tür steht. Und die schwatzende Meute mitten auf der Gasse, die trotz Hupkonzert ihre Hintern partout nicht auf den Gehweg schwingen will. Und Oma Hilde, die voller Entsetzen jedem offenen Ohr berichtet, dass Schmidts Julian die vergangene Nacht erst um drei Uhr morgens nach Hause gekommen ist. Mit weiblicher Begleitung im Schlepptau! Wieso eine alte Dame um die Uhrzeit in das Zimmer des knackigen Nachbarsjungen schaut, fragt vermutlich nie jemand. Aber immerhin: Der Buschfunk auf dem Land funktioniert einwandfrei.

Und doch: Es ist immer wieder schön, für einen Abstecher in die Heimat zurückzukehren, das kann ich nur betonen. Hier ein Schwätzchen mit dem Nachbarn, da ein Gruß Richtung Pfarrer auf dem Fahrrad. Spaziergänge im Feld, ein Wiedersehen mit Freunden, vor dem heimeligen Kamin in Ruhe ein gutes Buch lesen. Und vor allem: Mit bereits frisch gekochtem Kaffee und gedecktem Tisch in den Morgen starten – was gibt es Besseres?

Nichtsdestotrotz wird mir bei jedem Besuch klar: So oft ich an die Kleinstadt meiner Kindheit denke, so selten denkt diese an mich. Mürrische Blicke, zusammengekniffene Augen und zweifelndes Kopfschütteln machen mir deutlich, dass ich bereits aus dem Gedächtnis vieler verschwunden bin. Was ich für meinen Teil, zugegebenermaßen, nicht sonderlich schlimm finde. Verkürzt sich dadurch doch der alltägliche Sprung zum Supermarkt von stundenlangen Erklärungen, wo ich zur Zeit was tue, (und welche der fünf Töchter der Eheleute Gerbig ich eigentlich noch mal bin?) zu einem Kurztrip, beschränkt auf das Wesentliche. Nicht, dass ich es nicht genießen würde, mit alten Bekannten ein kurzes Schwätzchen zu halten, um sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen. Doch bei einigen Wenigen bin ich um ein kurzes Kopfnicken und anschließendem „Aus den Augen aus dem Sinn“ statt irrelevanten Small Talks, der sie ohnehin nicht interessiert, nicht sehr traurig.

„Dickes B, home an der Spree..“ Foto: fg.

Ebenso oft wie es mich nach Hause zieht, lockt es mich jedoch fort in die Ferne. 495 Kilometer weit fort, um genau zu sein: Das dicke B. Mit seinen hinter jeder Straßenecke versteckten Cafés, den sonnigen Plätzen an der Spree, dem Zusammentreffen von Kultur und Mensch jeder Art. Es ist wie eine kleine Heimkehr, um die ich nicht herumkomme, ja, nicht herumkommen will. Berlin ist für mich jedes Mal ein Erlebnis. Bei jedem Besuch entdecke ich etwas Neues und kann doch über Altbekanntes staunen wie ein kleines Kind – und verlasse die Hauptstadt immer wieder mit dem Gefühl, etwas nie da Gewesenes erlebt zu haben. Trotz der Zufriedenheit, mit der mich die Reise dorthin jedes Mal erfüllt, bleibt das nagende Gefühl, noch nicht alles gesehen zu haben und das Wissen: Ich komme wieder.

Doch zunächst heißt es bis auf Weiteres: Zurück in die eigenen vier Wände. Zurück zum Alltag. Zurück zur Realität. Denn trotz hin und her und Gedankenspielen hier und da, habe ich mich, zumindest für den Moment, für irgendetwas zwischen Berlin und dem Vogelsberg entschieden: Nicht zu groß und nicht zu klein, kein Dorf, aber auch keine Weltmetropole. Das Ganze nennt sich: Gießen.

Für viele angeblich mit das hässlichste Fleckchen Erde, das unser schönes Hessen zu bieten hat – für mich und einige andere ein nicht nachvollziehbares Urteil. Selbstverständlich gibt es Schöneres, aber gibt es das nicht immer? Für meinen Geschmack bietet diese Stadt zurzeit alles, was ich zum Bewältigen des ganz normalen Wahnsinns brauche: Ein Kino, das Filme in der Original Version zeigt und eine Universität, an der man Medizin studieren kann. Und: Anonymität. Zumindest weitestgehend. Hier fragt sich niemand, wieso ich seit zwei Tagen die Wohnung nicht verlassen habe. Oder wieso ich im Pyjama zum Briefkasten gehe. Denn hier bin ich nur eine von vielen, eine der Studenten, die die ganze Stadt bevölkern. Und wieder einmal, zu meinem Glück: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Doch immer wieder schleicht sich die Frage in meinen Kopf: Wieso nicht Berlin? Wieso nicht Hamburg? Oder ein bisschen Luft südlich des Äquators schnuppern? Ideen hätte ich genug. Möglichkeiten zu meinem Leidwesen nicht. Jedenfalls noch nicht. Aber da ich weder kurz vor dem Rollator, noch kurz vor dem Krückstock stehe, habe ich beschlossen: Fang beim Altbekannten an und arbeite Dich langsam weiter hinaus in die Große Welt. Und wie sagt man doch so schön: Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt. Scheint also, als könne ich nichts falsch machen, ganz egal wo ich eines Tages lande.

Von Herzen viele Grüße in die Heimat!

Ihre Rike

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