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Freiwillige Helfer richteten in Alsfeld einen Treff für Flüchtlinge und Deutsche ein – Warum die Familie Al-Jubory von Falludscha nach Alsfeld kam und bleiben möchteFlucht-Geschichten am Tisch der Begegnung

ALSFELD. Ehrenamtliche Hilfsdienste sind im Einsatz, Fußballvereine laden zum Training, Bundesprogramme finanzieren Musikfestivals: Von verschiedenen Seiten bekommen Flüchtlinge in Alsfeld und der Region Unterstützung bei der Eingewöhnung – oft begleitet von den Medien. Es gibt auch die unauffälligen Aktion, mit denen hilfsbereite Alsfelder den Ankömmlingen zur Seite stehen. Eine ist das privat organisierte Begegnungscafé. Einziger Programmpunkt zweimal die Woche: einander begegnen und kennenlernen. Man lernt voneinander – und hört deutscherseits schwer nachspürbare Geschichten wie die der Familie Al-Jubory, geflohen aus dem Irak

Weihnachtlich geht es derzeit zu im evangelischen Gemeindehaus, wo das Begegnungscafé seit Oktober seinen Platz gefunden hat. Bis zu 60 Teilnehmer hat es bereits bei einzelnen Treffen gegeben, erzählt Ulrike Kalbhenn, eine der Organisatorinnen – und die Initiatorin der Veranstaltung. Das große Engagement der Helfer von DRK, THW und Feuerwehr habe sie beeindruckt, erzählt sie. „Und was mache ich jetzt?“, fragte sie sich. Zusammen mit einer Reihe von Alsfeldern hatte Ulrike Kalbhenn doch eine Reihe von Reisen in den Nahen Osten unternommen, die Menschen dort kennen- und schätzen gelernt. Nun wollte sie etwas unternehmen und rief ehemalige Mitreisende an: „Ich brauche Euch! Ich brauche viele Mitstreiter!“

Ein Ort zur Begegnung sollte es werden, und damit lief die Ehefrau des ehemaligen Pfarrers Friedhelm Kalbhenn bei der evangelischen Kirchengemeinde offene Türen ein. „Es brauchte halt die Initialzündung!“ Die Gemeinde stellte den Saal im Gemeindehaus Am Lieden zur Verfügung. Ulrike Kalbhenn und ihr Team sorgen für das gemütliche Ambiente, und die Alsfelder Flüchtlingshilfe besorgte die Kontakte zu den Bewohnern der Notunterkunft.

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Die Initialzünderin Ulrike Kalbhenn (l.) und Bärbel Haltenhof als Herlferin.

„Es kommen immer mehr Alsfelder, die uns helfen wollen“

Das war wichtig, denn es stellte sich heraus: Von sich aus trauten sich die Flüchtlinge nicht gleich zu den Einheimischen. Sie werden abgeholt. Aber seither läuft es auch: Meist mehr als zehn, manchmal 30, einmal sogar 60 Besucher füllten den kleinen Saal. Und nicht nur von der Seite kam Nachfrage: „Es kommen immer mehr Alsfelder, die uns helfen wollen“, freut sich die Initiatorin.

Kaffeegedecke, Kekse und Spielzeug für Kinder auf dem Tisch, dazu ein Adventskranz mit brennenden Kerzen: Es geht bei diesem Treffen vor wenigen Tagen sichtlich auf Weihnachten zu. Es sieht gemütlich aus, dafür sind nur wenige Flüchtlinge da. Es bleibt offen, ob das an der Ankündigung liegt, dass ein Reporter kommen würde.

Aber der größte Teil der Familie Al-Jubory ist da. Sie hatten sich bereit erklärt, von sich zu erzählen: von ihrem Leben im Irak, von ihrer Flucht, und wie ihnen Alsfeld vorkommt. Es sind Vater Majid Al-Jubory und Mutter Iqbal Al-Azhari mit ihren Töchtern Rand 20), Sarah (18) und dem dreizehnjährigen Sohn Humam. Im Irak, so erklärt Mutter Iqdal, nehmen Frauen mit der Hochzeit nicht den Namen des Mannes an, was in Deutschland zu Verwirrung und Schwierigkeiten führt. Ob sie fürchten müsse, fragt sie die deutschen Gastgeber, dass sie unter Umständen von ihrer Familie getrennt werden könne. Am Tisch weiß niemand wirklich Rat, aber man verspricht, sich darum zu kümmern.

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Adventlich gemütlich ist es am Tisch der Begegnung, wo auch Kinder zusammenkommen.

Fallduscha: in mehreren Schlachten zerstört

Der Vater ist nicht dabei, aber die Töchter sprechen Englisch und erzählen. Aus Falludscha kommt die Familie Al-Jubory, der 300.000-Einwohnrstadt nahe Bagdad, die Deutschen aus diversen Tagesschau-Nachrichten durchaus bekannt sein könnte: von diversen Belagerungen und blutigen Schlachten US-amerikanischer Verbände mit verschiedenen irakischen Widerstandsgruppen. Bomben und Granaten, ist nachlesbar, richteten große Schäden an, ein Drittel der Bevölkerung floh zeitweise vor den Kämpfen.

Ins Ausland geflüchtet ist die Familie Al-Jubory aber erst vor den IS-Kämpfern, die in Fallduscha 2014 einzogen und ihr brutales Regiment errichteten. In der Stadt könne man kaum noch leben, erzählt Rand Al-Jubory: „Everything is destroyed in our city.“ Dabei hatte sie in den zwei Jahren zwischen dem Abzug amerikanischer Truppen in der Ankunft der IS-Truppen ihre Schule beendet und sich bereits für ein Medizin-Studium eingeschrieben.

Es sei ihnen doch gut gegangen im Irak, nachdem die ausländischen Truppen abgezogen waren. In Falludscha habe man sich daran gemacht, die Kriegsschäden zu beheben, so etwas wie Normalität kehrte ins Leben zurück. „We had two years of peace“, fasst die junge Frau zusammen. Der Vater hatte eine gute Arbeit als Ingenieur – etwas mit Metall, aber Rand fehlen die Worte für eine genaue Beschreibung – die Mutter arbeitete als Grundschullehrerin. Auch ihre Schwester beendete gerade die Schule, hatte ebenfalls ein Medizin-Studium im Blick, als die IS-Terroristen kamen und alle Errungenschaften wieder zerstörten.

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Geflohen aus dem Irak: Rand Al-Jubory (l.) neben Schwester Sarah. Rechts: ihre Mutter Iqbal Al-Azhari.

Ständige Angst vor den IS-Kämpfern

Plötzlich waren vor allem die weiblichen Mitglieder der Familie stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Nur mit der Familie durften sie das Haus verlassen, und die IS-Kämpfer kontrollierten sie an vielen Checkpoints, wenn sie im Auto unterwegs waren. Nicht nur Rand war bei solchen Gelegenheiten höchst mulmig zumute: „I was so afraid“, sagt sie mit geweiteten Augen. Mit Augen, die da schon trotz ihres jugendlichen Alters mehr Tod und Zerstörung gesehen hatten, als normale Europäer sich vorstellen können. Ja, erzählt sie, in den Kämpfen vor der jüngsten Einnahme, seien auch Freunde von ihr gestorben. Und einmal seien sie mit dem Auto zwischen die Fronten geraten und froh gewesen, heil aus dem Kugelhagel raus zu kommen.

Die Familie mochte unter der Knute des IS nicht mehr leben, zu gefährlich. Aber es waren ja keine armen Leute, die ihre Heimat verließen: In die Türkei reisten sie mit dem Flugzeug. Dort saßen sie dann lange fest, und es ging abenteuerlich weiter, denn es sollte mit dem Boot durch die Ägäis gehen. Vier Versuche brauchten die Flüchtlinge und hätten fast den ersten schon nicht überlebt. Das klapprige Boot sank, kaum dass es die Küste verlassen hatte. Polizisten retteten sie aus dem Wasser. Die nächsten Boote erwiesen sich ebenfalls als unbrauchbar, erst das vierte trug sie über das Wasser nach Griechenland. Am 10. Oktober erreichten sie Deutschland nach weit mehr als einem Jahr Flucht und trafen am 5. November in Alsfeld ein, leben seither in der Großsporthalle.

„People in Germany are … sehr gut!“

Das ist mehr als sechs Wochen her, und will man dankbare Flüchtlinge treffen, ist man bei der Familie Al-Jubory richtig. „People in Germany are … sehr gut!“ Strahlt die ältere Schwester über den Tisch. „Ein bisschen deutsch“ könne sie auch schon. Alle Mitglieder besuchen täglich intensive Deutschkurse, und ihre Erfahrungen mit den Einheimischen seien bislang durchweg positiv gewesen. Wenn sie durch die Straßen gehen, begegnen ihnen überwiegend lächelnde Gesichter. Nur einmal haben sie ein Mann böse angeschaut.

Die Geflüchteten haben Träume: von einer Fortsetzung des doch gerade begonnenen Medizin-Studiums, von einer guten Arbeit. Aber für all‘ das müssen sie jetzt viel lernen, und weil ihnen der Unterricht an der Max Eyth-Schule gefällt steht für die Familie erst einmal fest: keine Experimente mit Reisen. „We want to stay in Alsfeld!“ Sie möchten in Alsfeld bleiben.

Jetzt haben die Iraker die deutsche Weihnacht vor sich und zeigen sich über die vielen Lichter im Straßenbild Alsfelds durchaus beeindruckt. Aber obwohl sie als sunnitische Moslems selbst keine Weihnachten feiern, sei ihnen diese höchste christliche Fest gar nicht fremd, erzählt die 20-Jährige. Im Irak gibt es doch auch Christen – und an den Festtagen feierte man zusammen: „We got party with the christians!“

von Axel Pries

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