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Zum 25-jährigen Jubiläum: Die Buchhändlerin Gerlinde Becker lud zum Lese-Marathon„Lesen ist eine Sache der Bildung und der Familie“

LAUTERBACH (awh). Es war am Wochenende für die Lauterbacher Buchhändlerin Gerlinde Becker sicherlich so etwas wie der berühmte „D-Day „, die Landung der Alliierten in der Normandie – „der längste Tag“. Allerdings gab hier keine kriegerische Auseinandersetzung, die umtriebige Buchhändlerin hatte am Samstag bis Sonntag neun Uhr ihr Ladengeschäft für einen wahren Lese-Marathon 24 Stunden am Stück geöffnet.

Die meiste Zeit gab es an ihrem „D-Day“ auch noch Programm, und ein leckeres Bufett stand für ihre Gäste bereit: Anlass für die nicht alltägliche Aktion war, dass Gerlinde Becker im August 25 Jahre in dem Buchladen „Lesezeichen“ an der Ecke der Bahnhofstraße aktiv ist, zunächst als Filialleiterin für die Alsfelder Buchhandlung Heinz und seit 21 Jahren nun in ihrem eigenen Geschäft.

Beachtenswerte Lesungen ab Samstagmittag bis gegen Mitternacht und ein nächtliches Kriminalspiel lockten zahlreiche Buch- und Lesefreunde in den wohl sortierten Laden. Doch bei aller Freude über die gute Resonanz dieses Events ist der Buchhändlerin auch etwas bange. Die Buchhandlung Heinz im benachbarten Alsfeld, wo sie ihre berufliche „Karriere“ in den 80er Jahren begann, wird demnächst schließen, weil sich deren Geschäft nicht mehr lohnt. Im Gespräch mit OL berichtet die Gerlinde Becker, dass zehn ihrer Kollegen in Hessen demnächst in Hessen ebenfalls ihre Türen für immer schließen wollen, und der Trend dahin scheine noch nicht gestoppt zu sein. Grund für die Schließungen ist die geringe Gewinnspanne zwischen Einkauf und Verkauf der Bücher und die starke Konkurrenz durch vor allem aus dem USA stammende Internetkonzerne. Auf ihren Verdienst angesprochen, meinte Gerlinde Becker: „Es dürfte etwas mehr sein“.

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Traudi Schlitt aus Alsfeld las aus ihren Kolumnen.

Im Vogelsbergkreis gibt es noch ähnliche Buchhandlungen wie das „Lesezeichen“. Als Resümee des längeren Gesprächs mit der Lauterbacher Buchhändlerin kommt diese zu dem Appell oder auch Wunsch an die „Leseratten“: Sie sollen im Buchhandel kaufen, „damit wir solche Sachen weiter haben können“. Damit spricht sie sicherlich solche Veranstaltungen, wie die Ihrige, aber auch anderes an.

Skeptisch bei der Frage der Nachfolge

Es ist immer noch ihr Traumberuf, und sie will ihre Buchhandlung bis zu ihrer Rente führen, doch bei der Frage nach einem Nachfolger ist sie sehr skeptisch und verneint dies eher. Die gebürtige Biebenerin – Ortsteil von Gebenau -, in der Gemeinde wohnt die zweifache Mutter auch heute noch mit ihrer Familie, stellte sich eigentlich gegen ihren Vater, als sie vor vielen Jahrzehnten beschloss, sich nicht nur privat den Büchern zu widmen. Sie habe in der Kindheit und Jugend viel gelesen, berichtet sie uns und sich immer gefreut, wenn es als Weihnachtsgeschenk vom Vater und Großvater Bücher gab. Doch als sie ihrem Vater dann offenbarte: „Ich will Buchhändlerin werden“, da meinte der nur drauf: „Kind, lass es sein“. Erst als die SPD-Politikerin Heide Simonis dann mal bei Gerlinde Becker einkaufte, da war der überzeugte Sozialdemokrat dann überzeugter, es könne mit dem Wunschberuf ihrer Tochter doch was werden.

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Als Siegerin im Vorlesewettbewerb las die Lauterbacher Schülerin Lorena Pavloviv Texte ihres Alters.

Auf die Frage, ob Lesen denn nur weiblich sei – diesen Eindruck konnte bei beim vorwiegend weiblichen Publikum zu iherem Lesemarathon gewinnen, meinte Gerlinde Becker: „nicht nur“ Frauen bevorzugten Romane, Männer eher Sachliches wie Zeitungen oder Sachbücher. Das Altersspektrum sowohl der Lesenden und Vortragenden wie auch der Zuhörerschar macht allerdings Mut: Es reichte so etwa von zehn Jahren bis weit über die 80 und zeigt, dass Lesen durchaus noch „in“ oder „en vogue“ ist. Auch das Beispiel des noch sehr jungen Schülers aus dem nahegelegenen Gymnasium macht ihr eigentlich Mut: der Pennäler kommt in seinen Pausen oder Freistunden regelmäßig in ihre Buchhandlung, ströbert in den Regalen und setzt sich hin und liest. Am Samstag zur Mittsommernacht in der Buchhandlung hatte er zudem seine Mutter mitgebracht, die an anderer Stelle ebefalls vor dem Regalen sass und es ihrem Spößling nachmachte.

Buntes Spektrum an Vorlesern

Es umfasste eigentlich das ganze Spektrum von Literatur, Selbstverfasstem, Fremdes, alle Genres waren vertreten, was in den jeweils rund halbstündigen Lesungen dem interessierten Publikum präsentiert wurde. Auf einem erhöht vor einer Bücherwand aufgestellten Stuhl präsentierten die Vorleser allen Alters und Herkunft ihre Vorlesekunst. Dazu gehörten etwa Kreissprechesprecher Erich Ruhl, der emerierte Erziehungswissenschaftler und Lauterbacher „Stadtgelehrte“ Professor Dr. Karl-August Helfenbein, der aus seinem enormen Wissensfundus plauderte, Stadtverordnetenvorsteher Lothar Pietsch, die Strolch-Werbeikone Ute Kirst, der Musiker Peter McAven, die Vorlesesiegerin Lorena Pavlovic, die freiberufliche Zeitungsmitarbeiterin und Kolumnistin Traudi Schlitt (Alsfeld), das Vorstandsmitglied des Lauterbacher Museumsvereins, Hiltrud Pfnorr-Leihner, begleitet von Siegfried Schmelz auf der Gitarre, dessen Werke sie auch las, sowie die ehemalige Mitarbeiterin und Unruheständlerin Anita Wirths (Wartenberg).

Zum größten Teil hatten es sich die Vorleser beiderlei Geschlechts selbst ausgesucht, was sie vortrugen, zum Teil hatte aber auch Buchhändlerin Gerlinde Becker die Auswahl getroffen. Es war das breite Spektrum der Literatur, was diesen Lesemarathon so spannend machte und manche Zuhörer über Stunden ausharren oder mit Pausen immer wiederkommen ließ. Auch der intellektuelle Austausch zwischen Lesenden und Zuhörern bzw. untereinander machte sicherlich vielen Spass, länger als üblich in der Buchhandlung auszuharren.

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Siegfried Schmelz musizierte auf der Gitarre auch zu eigenen Zeilen.

„Die Leute haben keine Lust mehr, so wenig zu verdienen“, begründet Gerlinde Becker die steigende Zahl von Schließungen bei ihren Kollegen. Die Lauterbacher Buchhändlerin, die immer wieder durch besondere Aktionen oder auch der Teilnahme an Events wie „Der Vulkan läßt lesen“ mit der OVAG und der Sparkasse Oberhessen auf sich aufmerksam macht, befürchtet durch den steigenden Internetverkauf zweierlei Folgen: „Die Kulturarbeit wird vergessen“, und sie warnt vor steigenden Preisen im Internethandel, wenn noch mehr Buchhandlungen schließen. Viele Leute bräuchten vor dem Buchkauf offensichtlich keine Beratung mehr und “wissen auch die Kenntnisse der Buchhändler nicht zu schätzen“. Der gnadenlose Wettbewerb werde zur Folge haben, „dass immer mehr Händler kaputt gemacht werden“.

„Die Informationsflut ist zu groß“

„Lesen ist eine Sache der Bildung und der Familie“, sagt sie auf die Frage, welche Menschen überhaupt noch zu Gedrucktem greifen. „Die Welt ist größer geworden“ und „die Informationsflut ist zu groß“, sieht sie als Gründe auch für den geringeren Literaturkonsum. Nicht ohne stolz berichtet sie, dass es in ihrer Familie seit 18 Jahren in ihrem Haushalt keinen Fernseher mehr gebe und dies sogar ihre elf und 22 Jahre alten Kinder hinnähmen. Man schaue nur mal im Urlaub oder die Kinder bei der Großmutter Fernsehen, vermissen tut offensichtlich die „Glotze“ keiner so richtig.

Stolz ist Gerlinde Becker sicherlich besonders auf ihre Stammkunden, denn bei denen weiß sie, was die beim Lesen bevorzugen und kann entsprechende Tipps geben. Auf ihren eigenen Lesegeschmack angesprochen, erklärt sie uns: „Ich lese das, was mir gefällt“. Das kann sie ihren Kunden dann natürlich besonders gut empfehlen.

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Ein leckeres Bufett und Wohnzimmeratmoshäre machten die Mittsommernacht in der Buchhandlung „Lesezeichen“ zu einem besonderen Ereignis.

Am Anfang des Lesemarathons war es Gerlinde Becker (Jahrgang 1964) noch etwas mulmig, ob genügend Zuhörer kommen würden, doch ab der zweiten Lersung konne sie sicher sein, dass die Mittsomernachtsaktion ein voller Erfolg war. Übrigens war das Wetter in der küzesten Nacht des Jahres immer noch nicht schlecht genug, denn: „Schlechtes Wetter ist Lesewetter“. Sie freut sich auch sehr über den Bekanntsheitsgrad ihrer Buchhandlung in der Bahnhfstraße: „Man kennt uns oft schon, obwohl die Leute noch keine Kunden sind“.

„Wir stehen mit Herzblut dahinter“, betont die emsige und ideenreiche Buchhändlerin, die in der Weihnachtszeit schon mal um die 10.000 Bücher wohl geordnet in ihren Regalen stehen hat, und das und das Lob für die 24-Stunden-Veranstaltungsind sicherlich eine Entschädigung dafür, dass Gerlinde Becker am Sonntag irgendwann todmüde in ihr Bett gefallen ist.

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